Mitwirkungspflicht des Anwalts bei Zustellung zu Lasten des Mandanten?
Alleine das Rechtswesen produziert an jedem einzelnen Tag eine Anzahl an Briefen und Postsendungen, die nicht überschaubar ist. Einige von ihnen dienen der Klärung von Sachverhalten, andere eröffnen neue Probleme. So geschehen bei der Zustellung einer einstweiligen Verfügung, die ein Anwalt seinem Kollegen zustellte – und die dieser nicht annehmen wollte.
Die Annahme wird verweigert
Im vorliegenden Fall, der sich seit mehreren Jahren durch die unterschiedlichen Instanzen der deutschen Gerichte schob, stand eine solche einstweilige Verfügung im Mittelpunkt. Sie dient allgemein der Wahrung subjektiver Rechte zu einem Zeitpunkt, da eine Entscheidung in der Hauptsache aussteht. Der Empfänger kann folglich zu einem Tun, meist jedoch zu einem Unterlassen verpflichtet werden. Oder anders formuliert: Wer ein solches Dokument rechtswirksam erzielt, stärkt damit seine eigene Position – und wer sie empfängt, wird in seinem Standpunkt zumindest temporär geschwächt. Bislang galt es als üblich, dass die Zustellung von Anwalt zu Anwalt akzeptiert wird. Immerhin durchlief das Dokument zuvor ja die richterliche Prüfung. Welche Kanzlei wollte es sich da schon erlauben, die Annahme zu verweigern? Genau das ist nun aber geschehen.
Die Möglichkeiten der Zustellung
Wer die Komplexität des Sachverhalts verstehen möchte, muss zunächst einen Blick auf die Optionen werfen, die ein Anwalt beim Versenden der Verfügung im Namen seines Mandanten an den Anwalt der Gegenseite überhaupt besitzt. Als gängige Praxis galt es bislang, dass das am Gericht erwirkte Dokument durch einen dort ansässigen Gerichtsvollzieher zugestellt wurde. Das spart einerseits Zeit und Kosten, wenn diese justizinterne Behörde in Anspruch genommen wird. Andererseits wird damit die Rechtmäßigkeit der Beförderung sichergestellt – ein wichtiges Kriterium für den weiteren Verlauf des Verfahrens. In einigen wenigen Fällen erfolgt die Übergabe aber von Anwalt zu Anwalt, wobei der Empfänger die Verfügung annimmt und dem Kollegen eine Empfangsbestätigung zusendet. Dieser vermeintlichen Pflicht kam eine Düsseldorfer Kanzlei jedoch nicht nach.
Die Rechtsgrundlage fehlt
Besagte Kanzlei bekam im Jahre 2012 die einstweilige Verfügung zugesandt, verweigerte jedoch die Annahme ebenso wie die damit verbundene Unterschrift unter dem Empfangsbekenntnis. Als Grund dafür wurde angegeben, dass der für derartige Beförderungen einschlägige Paragraf 14 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) eine solche Veranlassung gar nicht vorsieht. Hier sei vielmehr lediglich die Rede von einer ordnungsgemäßen Zustellung – der schwammige Begriff wurde in der Rechtslehre und der Rechtsprechung bislang dahingehend ausgelegt, dass ausnahmslos der Versand per Gerichtsvollzieher davon umfasst ist. Für das Verschicken von Anwalt zu Anwalt fehle es der Norm an einer konkreten Ermächtigungsgrundlage. Der Bundesgerichtshof folgte nach jahrelangem Disput dieser Ansicht und begründete dabei einen kleinen juristischen Zeitenwandel mit erheblichen Konsequenzen.
Der eigene Mandant wird geschwächt
Allerdings darf vermutet werden, dass es nicht die fehlende Rechtsgrundlage war, die die Kanzlei an der Annahme der einstweiligen Verfügung hinderte. Vielmehr war das Dokument dazu angetan, einen durch diese Rechtspfleger vertretenen Mandanten in seinen Rechten zu schwächen. Denn gegen ihn war die Verfügung gerichtet. Alleine durch den Empfang wären die Chancen für die Kanzlei, den Fall für sich – und damit im Sinne des Mandanten – zu entscheiden, erheblich gesenkt worden. Hier stellt sich somit immer auch die Frage, wem ein Anwalt verpflichtet ist: Seinem direkten Auftraggeber oder dem allgemeinen Rechtswesen? Der Bundesgerichtshof hatte daher mittelbar auch diese Hürde zu überspringen, entschied sich aber, dem Vertrauensverhältnis zwischen der Kanzlei und ihrem Mandanten den Vorrang einzuräumen.
Eine unklare Rechtslage deutet sich an
Das Urteil des höchsten deutschen Spruchkörpers ist an sich zu begrüßen. Ein Unterschied ergibt sich nunmehr aber bei der Umsetzung desselben – und somit beim Empfang: Müsste ein durch den Gerichtsvollzieher übergebener Brief weiterhin aufgrund der gültigen Rechtsordnung akzeptiert werden, so darf die Annahme beim Versand von Anwalt zu Anwalt verweigert werden. Ein Missverhältnis also, das sich rechtlich – auch nach dem Ausspruch des Bundesgerichtshofes – nicht erklären lässt. So richtig und wichtig das Urteil folglich auch war, es wird für die kommenden Jahre eher weitere Probleme und die zur Klärung notwendigen Verfahren eröffnen, statt direkt zur Rechtssicherheit beizutragen. Dennoch liegt darin ein erster Schritt, eine über Jahrzehnte begangene fehlerhafte Anwendung endlich zu korrigieren.
BGH, Urteil vom 26.10.2015, Az. AnwSt(R) 4/15