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Rechtsmissbrauch im einstweiligen Verfügungsverfahren

Oberlandesgericht München, Urteil vom 05.08.2021, Az. 29 U 6406/20


Rechtsmissbrauch im einstweiligen Verfügungsverfahren

Das Oberlandesgericht München hat mit dem zugrunde liegenden Urteil klargestellt, dass die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zur prozessualen Waffengleichheit auch in kennzeichenrechtlichen Verfügungsverfahren zu beachten sind. Da der Antragsgegner in einem einstweiligen Verfügungsverfahren regelmäßig keine Gelegenheit hat, sich gegenüber dem Gericht entsprechend dem jeweiligen Verfahrensstand zu äußern, treffen nicht nur das Gericht aus den Grundsätzen der prozessualen Waffengleichheit resultierende Pflichten. Vielmehr hat auch der Antragsteller alles ihm Zumutbare und Mögliche zu unternehmen, um das Gericht in die Lage zu versetzen, ob, wann und wie der Antragsgegner vor einer Entscheidung in der Sache einzubeziehen ist, sodass eine sachgerechte Entscheidung getroffen werden kann. Unter diese Verpflichtung fällt auch das unaufgeforderte und unverzügliche Einreichen eines die Streitsache betreffenden Schriftsatzes der bislang nicht am Verfahren beteiligten Gegenseite. Dies gilt selbst dann, wenn das Verfahren bereits in Gang gesetzt wurde, der außergerichtliche Schriftsatz der Gegenseite allerdings vor einer Entscheidung des Gerichts die Antragstellerseite erreicht.

Was war geschehen?
Die Antragstellerin hat mit ihrer Antragsschrift den Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Verletzung ihrer Marken beantragt. Zusammen mit der Antragsschrift legte sie zwei Abmahnschreiben vor, auf welche die Antragsgegnerin nicht reagiert hat. Im weiteren Verlauf des Verfahrns erteilte die Kammer mehrere schriftliche bzw. telefonische Hinweise. Hierauf reagierte die Antragstellerin mit Schriftsätzen. Schlussendlich erließ das Gericht am 21.04.2020 antragsgemäß die begehrte einstweilige Verfügung, ohne der Antragsgegnerin vorher rechtliches Gehör zu gewähren.

Allerdings hatte diese bereits mit ihrem am 15.04.2020 bei den Antragstellervertreterinnen eingegangenen Schriftsatz Stellung genommen. Hierbei hat sie die geltend gemachten Ansprüche teilweise als unbegründet zurückgewiesen. Eine Mitteilung hierüber durch die Antragstellerin an das Gericht erfolgte, auch mit den Schriftsätzen, nicht. Dabei wäre es ihr offenkundig und ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen. Das Landgericht hat auch auf den Widerspruch der Antragsgegnerin die einstweilige Verfügung weitgehend aufrechterhalten. Hiergegen hat sich die Antragsgegnerin mit der Berufung zur Wehr gesetzt.

Unzulässigkeit des Verfügungsantrags wegen Rechtsmissbrauchs
Das Oberlandesgericht hat das Urteil aufgehoben und den Antrag zurückgewiesen. Der Verfügungsantrag sei wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Antragstellerin gem. § 242 BGB unzulässig, so dass die einstweilige Verfügung vom 21.04.2020, wie auch das diese überwiegend bestätigende Urteil des LG vom 06.10.2020, aufzuheben und der entsprechende Verfügungsantrag zurückzuweisen seien.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts unterliegt jede Rechtsausübung dem aus dem Grundsatz von Treu und Glauben entwickelten Missbrauchsverbot. Der aus dem materiellen Recht stammende Grundsatz von Treu und Glauben finde auch im Zivilverfahrensrecht Eingang. Er verpflichtet die Parteien zu redlicher Prozessführung und verbietet den Missbrauch prozessualer Befugnisse. Demnach führt ein Verstoß gegen § 242 BGB  zur Unzulässigkeit der Ausübung prozessualer Befugnisse. Dies ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.

Prozessuale Wahrheitspflicht als Pflicht zur redlichen Prozessführung
Ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen in einem Verfügungsverfahren kann bereits darin gesehen werden, dass der Antragsteller gegenüber dem Gericht die Reaktion des Antragsgegners auf eine vorgerichtliche Abmahnung verschweigt. Dies stellt einen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO dar, nach dem der Antragsteller zu vollständiger Erklärung über die tatsächlichen Umstände verpflichtet ist. Der Antragsteller darf sich keiner planmäßig gezielten Gehörsvereitelung zur Erschleichung eines Titels schuldig machen.

Eine derartige Vereitelung lag vorliegend darin, dass die von der Antragsgegnerin angekündigte außergerichtliche Stellungnahme durch die Antragstellerin nicht unaufgefordert dem Gericht zur Kenntnis gebracht worden ist. Demnach hat sich die Antragstellerin im Streitfall aufgrund des bewussten Vorenthaltens des außergerichtlichen Schriftwechsels rechtsmissbräuchlich verhalten, sodass ihr ein Verstoß gegen die aus § 138 Abs. 1 ZPO folgende prozessuale Wahrheitspflicht vorzuwerfen war. In Konsequenz waren die einstweilige Verfügung wie auch das diese bestätigende landgerichtliche Urteil aufzuheben.

Besondere Schutzbedürftigkeit des Antragsgegners
Eine Besonderheit im einstweiligen Verfügungsverfahren ist, dass dieses seitens des Gerichts einseitig geführt wird. Somit hat der Antragsgegner keine Gelegenheit, sich gegenüber dem Gericht entsprechend dem jeweiligen Verfahrensstand zu äußern. Insofern treffen nicht nur das Gericht aus den Grundsätzen der prozessualen Waffengleichheit resultierende Pflichten. Vielmehr hat auch der Antragsteller alles ihm Zumutbare und Mögliche zu unternehmen, um das Gericht in die Lage zu versetzen, eine sachgerechte Entscheidung darüber zu treffen, ob, wann und wie der Antragsgegner vor einer Entscheidung in der Sache einzubeziehen ist. Hierzu gehört, wie die Entscheidung zeigt, auch das unaufgeforderte und unverzügliche Einreichen eines Schriftsatzes der bislang nicht am Verfahren beteiligten Gegenseite, wenn dieser die Antragstellerin vor einer Entscheidung des Gerichts erreicht.

Rechtsmissbrauch lässt die Entscheidung in der Sache entfallen
In Folge des Rechtsmissbrauchs war nicht zu prüfen, ob das Landgericht der Sache nach die geltend gemachten Ansprüche zu Recht zugesprochen hat, denn die Bejahung rechtsmissbräuchlichen Prozessverhaltens bliebe andernfalls sanktionslos. Dies widerspräche dem Grundgedanken, einem Gläubiger die rechtsmissbräuchliche Geltendmachung bestehender Ansprüche generell zu versagen, weil dies Treu und Glauben zuwiderliefe. Demnach ist es auch nicht darauf angekommen, ob die in dem außergerichtlichen Schreiben der Antragsgegnerin vom 15.04.2020 vorgebrachten Argumente inhaltlich geeignet waren, um den Ansprüchen der Antragstellerin entgegen gehalten zu werden. Maßgeblich war damit allein das als rechtsmissbräuchlich anzusehende Verschweigen des außergerichtlichen Schriftverkehrs.


Oberlandesgericht München, Urteil vom 05.08.2021, Az. 29 U 6406/20


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