• Anwaltskanzlei Weiß & Partner

    Katharinenstraße 16
    73728 Esslingen

    0711 - 88 241 006
    0711 - 88 241 009
    Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Das Recht auf Vergessenwerden

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 10.06.2020, Az. 6 U 129/18


Das Recht auf Vergessenwerden

Das Oberlandesgericht Karlsruhe befasste sich in seinem Urteil vom 10.06.2020 mit dem Recht auf Vergessenwerden. Es kam zu dem Schluss, dass trotz langem Zeitablaufes das klägerseitige Interesse am Schutz seines Persönlichkeitsrecht nicht der Meinungs- und Pressefreiheit überwiege. Eine  Interessenabwägung wegen Zweckfortfalls der Datenverarbeitung kam zum gleichen Ergebnis.

Wann greift das Recht auf Vergessenwerden ein?
Der Kläger war ein früherer Straftäter, Beklagte die Betreiberin einer Internetsuchmaschine. Der Kläger begehrte die Entfernung eines Links aus der Ergebnisliste der Suchmaschine. Bei Eingabe seines Vor- und Nachnamens erschien regelmäßig ein Link zu einem Zeitungsartikel. Dieser behandelte mehrere Straftaten aus dem Jahr 1988, für die sich der Kläger zu verantworten hatte. Ein Raubmord konnte dem Kläger nicht nachgewiesen werden, weshalb er freigesprochen wurde. Später im selben Jahr überfiel und ermordete er jedoch gemeinsam mit einem weiteren Täter drei Menschen. Wegen dieser Tat wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Jahr 2014 wurde er aus der Haft entlassen und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der Artikel behandelte die grundsätzlichen Problematik, dass Täter, denen ein Verbrechen nicht nachgewiesen werden konnte, freigesprochen werden und dann gegebenenfalls sofort das nächste Verbrechen begehen. Der Kläger stellte über ein Webformular der Beklagten einen Löschungsantrag. Dies lehnte die Beklagte jedoch ab. Daraufhin klagte der Kläger. Die Vorinstanz wies die Klage ab, weswegen er in Berufung ging.

Allgemeines Persönlichkeitsrecht des Klägers
Das Oberlandesgericht Karlsruhe sah vorrangig das allgemeine Persönlichkeitsrecht als verletztes Rechtsgut an. Die Verlinkung des Artikels bei Suche des Beklagten-Namen und die darin enthaltene namentliche Nennung stelle einen erheblichen Eingriff in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht dar. Auch sei das Persönlichkeitsrecht nicht nur in seiner Sozialsphäre beeinträchtigt. Denn die Auffindbarkeit und Zusammenführung von Informationen mittels namensbezogener Suchabfragen führe heutzutage dazu, dass für deren Auswirkungen zwischen Privat- und Sozialsphäre kaum mehr zu unterscheiden sei. Dagegen sei  der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht eröffnet.

Eingriff ist ausreichend stark
Auch liege in der Namensnennung ein ausreichend starker Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vor, so das Gericht weiter. Zwar sei der Artikel nur über das Archiv der Zeitung oder bei gezielter Suche auffindbar. Auch führe die Suche nach dem Namen des Klägers zu einer Reihe anderer Personen. Außerdem tauche der Link auf den Artikel nicht immer an vorderer Stelle der Ergebnisliste auf, sondern zum Teil erst auf Seite 8. Es sei aber zu berücksichtigen, dass der Kläger fürchten müsse, dass Freunde, Nachbarn und insbesondere auch neue Bekannte schon aus einem oberflächlichen Informationsinteresse heraus den Namen des Klägers in die Suchmaschine eingeben. Werde dabei auf frühere Straftaten hingewiesen, begründe das die Gefahr, dass das soziale Umfeld und dessen Wahrnehmung nachhaltig durch diese Information geprägt bleibe. Dies wiege umso schwerer, weil sich der Kläger nach der Verbüßung einer langjährigen Haftstrafe in ein neues soziales Umfeld einfinden müsse. Dadurch werde die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach Verbüßung der Haftstrafe erheblich erschwert und die Chance eines Neuanfangs nachhaltig behindert. Zudem sei der Kläger mit seiner Tat selbst nicht wieder aktiv an die Öffentlichkeit getreten.

Meinungs- und Pressefreiheit der Beklagten
Das OLG brachte für die Beklagte insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit als einschlägige Grundrechte in die Abwägung ein. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die Veröffentlichung des Artikels ursprünglich rechtmäßig gewesen sei. Die Berichterstattung über Straftaten – auch in nicht anonymisierter Form – gehöre zu den Aufgaben der Presse und liegt im öffentlichen Interesse. Dies gelte umso mehr, als es sich vorliegend um eine Straftat handele, die sich von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt. Auch der Inhalt des Berichts über Tat- und Prozessverlauf sei zutreffend gewesen. Gleiches gelte für die Darstellung des klägerseitigen Vorgehens als grausam, brutal und rücksichtslos. Dies entspreche alles den Tatsachen;  wahre Tatsachenberichte seien aber grundsätzlich hinzunehmen.

Zeitablauf und besondere Umstände des Einzelfalls
Nach Ansicht des Gerichts kam der zeitlichen Distanz zu Tat und Berichterstattung von über 30 Jahren entscheidende Bedeutung zu. Zwar nehme grundsätzlich das öffentliche Informationsinteresse mit der Zeit ab. Dies könne aber auch bei längerem Zeitablauf nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Denn ein Straftäter habe keinen uneingeschränkten Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr mit seiner Tat konfrontiert zu werden. Auch die Verbüßung der Straftat führe nicht dazu, dass er uneingeschränkt mit der Tat "allein gelassen werden" müsse. Welche Bedeutung die zeitliche Distanz für die Abwägung habe, hänge von den Umständen des Einzelfalles ab. Vorliegend verschiebe der lange Zeitablauf das Gewicht zwar zu Gunsten des Klägers. Das öffentliche Interesse an der Bereitstellung der Information überwiege damit nicht mehr offensichtlich. Angesichts der Schwere der Tat und des Charakters des Artikels könne aber auch umgekehrt das Recht des Klägers auf Vergessenwerden keinen Vorrang beanspruchen.

Datenschutzrechtlicher Löschungsanspruch und Zweckfortfall
Das Gericht erkannte in der Anzeige des Artikels in der Ergebnisliste keine Rechtswidrigkeit aufgrund datenschutzrechtlichem Zweckfortfall. Denn das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sei durch Zeitablauf noch nicht soweit zurückgegangen, dass dies einer Zweckerfüllung gleichkomme. Auch hierbei sei wiederum eine Interessenabwägung im Einzelfall vorzunehmen.

Interessenabwägung richtet sich nach Unionsrecht
Das OLG befand, die Interessenabwägung nach der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) richte sich allein nach Unionsrecht. Denn die DSGVO stelle vollständig harmonisiertes Unionsrecht dar. Dabei seien aber die im nationalen Recht entwickelten Grundsätze zur Haftung des Suchmaschinenbetreibers zu berücksichtigen. Grundsätzlich sei vorliegend für den Kläger sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten in die Abwägung einzubeziehen. Die Beklagte wiederum könne sich zwar nicht auf die Freiheit der Meinungsäußerung berufen. Allerdings sei ihr Recht auf unternehmerische Freiheit in die Abwägung einzustellen. Zudem die von einem solchen Rechtsstreit möglicherweise unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter und damit vorliegend auch die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter und die Informationsinteressen der Nutzer.

Kein überwiegendes Interesse für eine Seite
Nach einer umfangreichen datenschutzrechtlichen Abwägung kam das Gericht auch hier zu dem Ergebnis,  dass die Interessen des Klägers denen des Suchmaschinenbetreibers, der Öffentlichkeit und des Inhalteanbieters nicht offensichtlich und auf dem ersten Blick klar erkennbar überwiegen. Vielmehr stünden sich alle Interessen mit vergleichbarem Gewicht gegenüber.

Zeitung als Inhalteanbieter der „bessere“ Beklagte
Das OLG befand, dass vorrangig gegen die Zeitung als sog. Inhalteanbieter vorzugehen sei. Denn die Zeitung habe ihren Sitz im Inland und sei damit für den Kläger greifbar. Grundsätzlich könne die Beeinträchtigung, die vom Artikel für den Kläger insgesamt ausgehe, nur vom Inhalteanbieter selbst abgestellt werden.

Revision zugelassen
Das Gericht ließ die Revision zu. Die Grundsätze zur Haftung des Suchmaschinenbetreibers seien für eine Vielzahl von Fällen von Bedeutung. Zudem seien sie in jüngster Zeit Gegenstand verschiedener richterlicher Entscheidungen gewesen und noch nicht abschließend geklärt.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 10.06.2020, Az. 6 U 129/18


Ihr Ansprechpartner

Bitte Kommentar schreiben

Sie kommentieren als Gast.

E-Mail: kanzlei@ratgeberrecht.eu, Telefon: 004971188241006
Katharinenstraße 16, 73728, Esslingen, Baden-Württemberg, Deutschland