OLG Hamm: Abmahnung der ProVima Warenhandels GmbH rechtsmissbräuchlich
Über die Abmahntätigkeit der ProVima Warenhandels GmbH, Rückertstraße 6, 33729 Bielefeld, durch die Kanzlei Faustmann Neumann Rechtsanwälte aus Düsseldorf hatten wir bereits im Sommer dieses Jahres berichtet.
Nun hat das OLG Hamm mit Urteil vom 15.09.2015, Az: 4 U 105/15, eine Abmahnung aus der Abmahnwelle der ProVima Warenhandels GmbH als rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 8 Abs. 4 Satz 1 UWG ausgeurteilt. Das OLG Hamm stellt hierbei bereits im Leitsatz auf die rechtsmissbräuchliche Geltendmachung eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruches (insbesondere das Gebührenerzielungsinteresse) bei einem nicht mehr vorhandenem vernünftigen Verhältnis zwischen der Abmahntätigkeit und der eigentlichen gewerblichen Tätigkeit des Abmahnenden ab.
Der Pressemitteilung des OLG Hamm ist hierzu zu entnehmen:
„Nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb sei das Verfolgen eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruchs rechtsmissbräuchlich, so der Senat, wenn es unter Berücksichtigung der gesamten Umstände vorwiegend dazu diene, gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen. Hiervon sei im vorliegenden Verfahren auszugehen. Die umfangreiche Abmahntätigkeit der Verfügungsklägerin habe in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer eigentlichen gewerblichen Tätigkeit gestanden.
Beim Versand der ersten 43 Abmahnungen, u.a. auch an die Verfügungsbeklagte, sei die Verfügungsklägerin ein erhebliches Kostenrisiko eingegangen. Bei den binnen 7 Tagen versandten Abmahnungen sei vernünftigerweise nicht mit dem zwischenzeitlichen Eingang einer nennenswerten Anzahl strafbewehrter Unterlassungserklärungen zu rechnen gewesen. Durch ihr Vorgehen hätten der Verfügungsklägerin hohe Kosten entstehen können. So fielen bereits für die 43 Abmahnungen Anwaltskosten von über 42.000 Euro an. Berücksichtige man zudem, dass ein nicht unerheblicher Teil der eingeleiteten Abmahnvorgänge in gerichtliche Auseinandersetzungen münde, erhöhe sich das Kostenrisiko. Insgesamt entstünden Anwalts- und Gerichtskosten von über 250.000 Euro, wenn ein Drittel der Abmahnvorgänge in der Hauptsache über eine gerichtliche Instanz und ein weiteres Drittel über zwei gerichtliche Instanzen auszufechten sei, was bereits eine für die Verfügungsklägerin günstige, moderate Entwicklung beschreibe.
Dieses Kostenrisiko stehe in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu der eigentlichen wirtschaftlichen Betätigung der Verfügungsklägerin. Nur beim Verkauf von Briefkästen und ähnlichen Produkten trete die Verfügungsklägerin in Konkurrenz zur Verfügungsbeklagten. Ordne man diesem Marktsegment die dem Senat bekannt gegebenen Werte zum gesamten Jahresüberschuss der Verfügungsklägerin aus 2013 (ca. 5.500 Euro) und zu ihrem gesamten Eigenkapital aus 2013 (ca. 300.000 Euro) zu, bestehe kein kaufmännisch vernünftiges Verhältnis zwischen Gewinn und Eigenkapital und der zu beurteilenden Abmahntätigkeit mehr. Das Kostenrisiko der Abmahntätigkeit belaufe sich dann auf das ca. 50-fache des erzielten Jahresgewinns. Die mit den Abmahnungen verbundenen Kosten zehrten das im Betrieb vorhandene Eigenkapital (nahezu) vollständig auf. Ein derartig hohes Kostenrisiko gehe ein vernünftig handelnder Kaufmann grundsätzlich nicht ein.“
Der Urteilsbegründung ist weiter zu entnehmen, dass die ProVima Warenhandels GmbH im nach Ansicht des OLG Hamm ausschließlichen oder zumindest ganz überwiegenden Gebührenerzielungsinteresse bestrebt war.
Auch anderweitige Einsparungsmaßnahmen der ProVima Warenhandels GmbH um das Kostenrisiko der Abmahnungen abzufedern, wie z.B. dass der Geschäftsführer nicht mehr Business- sondern nur noch EconomyClass fliegen würde, ließ das OLG Hamm nicht gelten.
Das Urteil des OLG Hamm im Volltext:
G r ü n d e
A.
Von einer Sachverhaltsdarstellung wird nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
B.
Die – zulässige – Berufung der Verfügungsbeklagten ist begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, nachdem die Verfügungsklägerin ihre Berufung zurückgenommen hat, allein noch der erstinstanzliche Verfügungsantrag zu 2., dem das Landgericht unter Ziffer 1. der Urteilsformel des angefochtenen Urteils stattgegeben hat und mit dem die Verfügungsklägerin beanstandet, dass sich auf der Verkaufsverpackung eines von der Verfügungsbeklagten verkauften Briefkastens des Herstellers „C KG“ ein in der Art eines „Prüfsiegels“ gestalteter Aufdruck mit der Aufschrift „Geprüfte Qualität“ (Einzelheiten Anlage FN2 = Blatt 12-18 der Gerichtsakte) befand.
Dieser Verfügungsantrag ist als unzulässig zurückzuweisen. Das Vorgehen der Verfügungsklägerin erweist sich als rechtsmissbräuchlich (§ 8 Abs. 4 Satz 1 UWG).
I. Der Senat legt der Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens folgenden Geschehensablauf zugrunde:
Die Verfügungsklägerin beantragte zunächst beim Landgericht Hagen den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die C KG. Gegenstand des beim Landgericht Hagen unter der Geschäftsnummer 23 O 25/15 geführten Verfahrens waren u.a. die – von der Verfügungsklägerin auch im vorliegenden Verfahren in der ersten Instanz beanstandeten – Kennzeichnungen von Briefkästen mit den Werbeaussagen „umweltfreundlich produziert“ und „geprüfte Qualität“. Die mündliche Verhandlung vor der beim Landgericht Hagen mit der Sache befassten Kammer für Handelssachen fand am 03.06.2015 statt. In der mündlichen Verhandlung wies die Kammer darauf hin, dass sie die beiden oben genannten Produktkennzeichnungen für wettbewerbswidrig halte. Am 10.07.2015 verkündete das Landgericht Hagen sodann ein Urteil mit einem dem in der mündlichen Verhandlung vom 03.06.2015 erteilten Hinweis entsprechenden Inhalt.
Ab dem 04.06.2015 – mithin dem Tag nach der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Hagen – führte die Verfügungsklägerin nach eigenen Angaben „Marktsichtungen“ durch. Noch am 04.06.2015, bei dem es sich in Nordrhein-Westfalen um einen gesetzlichen Feiertag (Fronleichnam) handelte, fand nach den Angaben der Verfügungsklägerin eine Besprechung zwischen ihrem Geschäftsführer und ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten statt. Am Freitag, dem 05.06.2015, übersandten die jetzigen Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin dieser eine E-Mail (Anlage FN13 [= Blatt 104-108 der Gerichtsakte] sowie Anlage AG17), die unter Bezugnahme auf die Besprechung vom Vortage eine Liste von (mindestens) 50 Unternehmen enthielt, welche Briefkästen des Herstellers „C KG“ mit den oben beschriebenen Kennzeichnungen vertrieben. Der Geschäftsführer der Verfügungsklägerin antwortete hierauf am Montag, dem 08.06.2015, mit einer E-Mail (Anlage FN13 [=Blatt 104 der Gerichtsakte] sowie Anlage AG17), in der es u.a. hieß: „(…) zunächst einmal möchte ich mich für Ihr schnelles Tätigwerden bei Ihnen bedanken. Wie besprochen, gehen Sie bitte gegen sämtliche Händler vor, die ebenfalls mit den beiden Verstößen auffallen. (…)“.
Unter dem 12.06.2015 übersandten die jetzigen Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin dieser eine Vorschussrechnung über 35.700,00 € brutto (Anlage FN14a = Blatt 109 der Gerichtsakte), die den Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit – ohne Nennung konkreter Abmahngegner – lediglich pauschal mit den Worten „Abmahnung Briefkastenverkäufer betreffend C X Ware, Ihr Auftrag vom 08.06.2015“ bezeichnete. Eine entsprechende Zahlung der Verfügungsklägerin ging am 18.06.2015 auf dem Bankgirokonto ihrer Prozessbevollmächtigten ein (vgl. Anlage FN14b = Blatt 110 der Gerichtsakte).
Spätestens am 23.06.2015 begannen die jetzigen Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin in deren Namen mit dem Versand von Abmahnungen an Verkäufer von „C“-Briefkästen. In diesen Abmahnungen wandte die Verfügungsklägerin sich jeweils gegen das Angebot von Briefkästen, die mit den Werbeaussagen „umweltfreundlich produziert“ und/oder „geprüfte Qualität“ gekennzeichnet waren. Darüber hinaus waren die Abmahnungen in der Regel auch auf weitere (tatsächliche oder vermeintliche) Wettbewerbsverstöße des jeweiligen Abmahngegners gestützt. Nach den Angaben der Verfügungsklägerin enthielten die Abmahnungen „durchschnittlich 3-7“ wettbewerbsrechtliche Beanstandungen. Auch die an die Verfügungsbeklagte gerichtete Abmahnung (Anlage FN8 = Blatt 31-39 der Gerichtsakte) ist auf den 23.06.2015 datiert. Neben der an die Verfügungsbeklagte gerichteten Abmahnung liegen dem Senat weitere 15 der auf den 23.06.2015 datierten Abmahnungen in Ablichtung (Anlage AG4) vor. Die – im Hinblick auf die jeweils geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz der für die Abmahnung angefallenen Rechtsanwaltsvergütung – in den Abmahnungen angegebenen Gegenstandswerte für die anwaltliche Tätigkeit bewegen sich in der Regel zwischen 20.000,00 € und 30.000,00 €. Die dem Senat vorliegenden 16 Abmahnungen vom 23.06.2015 enthalten folgende Gegenstandswertangaben: 11 x 30.000,00 €, 2 x 25.000,00 €, 2 x 20.000,00 € und 1 x 15.000,00 €.
Die Zahl der ausgesprochenen Abmahnungen erhöhte sich bis zum 29.06.2015 auf 43, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits strafbewehrte Unterlassungserklärungen von Abgemahnten vorlagen. Der Senat entnimmt diesen Umstand den Ausführungen in dem Schriftsatz der Verfügungsklägerin vom 09.09.2015 (Blatt 264 ff der Gerichtsakte), in dem es auf Seite 5 (=Blatt 268 der Gerichtsakte) lautet: „(…) So waren am 29.06. zwar 43 Wettbewerber abgemahnt, aber zugleich lagen zu diesen am 03.07. – also nur 4 Tage später – ganze 27 (!) Unterwerfungen vor (…)“. Der Senat versteht diese Formulierung dahin, dass am 29.06.2015 gerade noch keine Unterwerfungserklärung vorlag. Soweit die Verfügungsklägerin von diesem Tatsachenvortrag später – namentlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat – wieder abzurücken versucht hat, in dem sie von „höchstens 41 zum gleichen Zeitpunkt „offenen“ Abmahnungen“ gesprochen hat, vermag der Senat diesem neuen Vorbringen mangels näherer Substantiierung nicht zu folgen.
Bis zum 02.08.2015 erhöhte sich die Zahl der ausgesprochenen Abmahnungen auf insgesamt 71. Zwischenzeitlich haben die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin insgesamt deutlich mehr als 200 Abmahnungen versandt.
II. Die Inanspruchnahme der Verfügungsbeklagten durch die Verfügungsklägerin erweist sich vor diesem Hintergrund als rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig. Nach § 8 Abs. 4 Satz 1 UWG ist die Geltendmachung eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruches unzulässig, wenn sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände (rechts-)missbräuchlich ist. Ein Missbrauch liegt vor, wenn der Anspruchsberechtigte mit der Geltendmachung des Anspruchs überwiegend sachfremde, für sich betrachtet nicht schutzwürdige Interessen und Ziele verfolgt und diese als die eigentliche Triebfeder und das beherrschende Motiv der Verfahrenseinleitung erscheinen (Köhler/Bornkamm/Köhler, UWG, 33. Aufl. [2015], § 8 Rdnr. 4.10 m.w.N.). Ein Fehlen oder vollständiges Zurücktreten legitimer wettbewerbsrechtlicher Ziele ist für die Annahme eines Missbrauchs allerdings nicht erforderlich; ausreichend ist, dass die sachfremden Ziele überwiegen (Köhler/Bornkamm/Köhler, a.a.O. m.w.N.).
Als typischen Beispielsfall für Rechtsmissbrauch benennt § 8 Abs. 4 Satz 1 UWG die Geltendmachung eines Anspruchs, die vorwiegend dazu dient, gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen, wobei dies in gleicher Weise für das Interesse, Ansprüche auf Zahlung von Vertragsstrafen entstehen zu lassen, gilt (Köhler/Bornkamm/Köhler, a.a.O., Rdnr. 4.12). Hiervon ist auszugehen, wenn die äußeren Umstände in ihrer Gesamtheit aus Sicht eines wirtschaftlich denkenden Unternehmers deutlich machen, dass der Anspruchsberechtigte kein nennenswertes wirtschaftliches oder wettbewerbspolitisches Interesse an den Rechtsverfolgung haben kann und deshalb allein oder ganz überwiegend nur ein Gebühreninteresse verfolgen kann, wobei es sich dabei auch um das Interesse der von ihm beauftragten Rechtsanwälte handeln kann (Senat, Urteil vom 02.03.2010 – 4 U 217/09 – <juris>). Dies ist hier der Fall.
Eine – im vorliegenden Fall allein schon für den Monat Juni 2015 zu bejahende – umfangreiche Abmahntätigkeit kann allerdings für sich allein betrachtet in der Regel keinen Missbrauch belegen, wenn zugleich umfangreiche Wettbewerbsverstöße in Betracht kommen (Senat, a.a.O.). Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die die Missbräuchlichkeit der Anspruchsgeltendmachung begründen können (Senat, a.a.O.). Solche Umstände liegen insbesondere dann vor, wenn die Abmahntätigkeit sich derart verselbstständigt hat, dass sie in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu der (eigentlichen) gewerblichen Tätigkeit des Abmahnenden steht (Senat, a.a.O.; Köhler/Bornkamm/Köhler, a.a.O., Rdnr. 4.12a). Ein wirtschaftlich vernünftiges Verhältnis zwischen der Abmahntätigkeit und der eigentlichen gewerblichen Betätigung der Verfügungsklägerin bestand bereits zum Zeitpunkt des Ausspruches der Abmahnung gegenüber der Verfügungsbeklagten nicht mehr.
1. Zur Bewertung des wirtschaftlichen Umfanges einer umfangreichen Abmahntätigkeit ist das hieraus resultierende Kostenrisiko für den Abmahnenden heranzuziehen (Senat, a.a.O.). Bei der Ermittlung dieses Kostenrisikos ist im vorliegenden Falle auf die Verhältnisse am 23.06.2015, dem Tag des Beginns der Abmahnserie und des Ausspruches der Abmahnung gegenüber der Verfügungsbeklagten, abzustellen und auf dieser Basis eine Prognose zu den zu erwartenden Kosten zu treffen. Zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbare, für die Verfügungsklägerin im Ergebnis günstigere Entwicklungen in der Folgezeit vermögen die Verfügungsklägerin nicht zu entlasten.
Die Durchführung der Besprechung am 04.06.2015 – einem Feiertag –, der E-Mail-Schriftwechsel zwischen der Verfügungsklägerin und ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 05./08.06.2015, die nicht nach einzelnen Anspruchsgegnern aufgeschlüsselte Vorschussrechnung vom 12.06.2015 und nicht zuletzt der Versand von insgesamt 43 Abmahnungen zwischen dem 23.06.2015 und dem 29.06.2015 – mithin in einem Zeitraum von lediglich sieben Tagen, in dem vernünftigerweise nicht mit dem Eingang einer auch nur ansatzweise nennenswerten Anzahl strafbewehrter Unterlassungserklärungen gerechnet werden konnte – machen deutlich, dass es im Juni 2015 das Bestreben der Verfügungsklägerin und der von ihr beauftragten Rechtsanwälte war, möglichst rasch und möglichst in großer Zahl Abmahnungen gegen Unternehmen, die „C“-Briefkästen vertreiben, auszusprechen. Jedenfalls bestand das Bestreben, möglichst rasch die (zumindest) 50 Abmahnungen zu erstellen und zu versenden, die sich aus dem E-Mail-Schriftwechsel vom 05./08.06.2015 ergaben (darunter auch die hier zu beurteilende Abmahnung an die Verfügungsbeklagte), und zwar ohne Rücksicht auf etwaige Rückäußerungen der Abgemahnten. Dies ließe es gerechtfertigt erscheinen, den folgenden Vergleichsbetrachtungen sogar das Kostenrisiko für (zumindest) 50 Abmahnungen zugrundezulegen.
Zu Gunsten der Verfügungsklägerin legt der Senat indes nur das Kostenrisiko für die zwischen dem 23.06.2015 und dem 29.06.2015 ausgesprochenen 43 Abmahnungen zugrunde, die vor dem Eingang der ersten strafbewehrten Unterlassungserklärungen versandt wurden. Wiederum zu Gunsten der Verfügungsklägerin geht der Senat bei der Berechnung dieses Kostenrisikos nur von einem Gegenstands-/Streitwert von 20.000,00 € aus, mithin von einem Wert am unteren Ende der von der Verfügungsklägerin in ihren Abmahnungen benannten Bandbreite von Gegenstandswerten.
Allein die von der Verfügungsklägerin für diese 43 Abmahnungen an die von ihr beauftragten Rechtsanwälte zu zahlende Vergütung beläuft sich auf (netto) 42.337,80 € (Geschäftsgebühr 964,60 € zzgl. 20,00 € Auslagenpauschale in 43 Fällen). Vernünftig ist darüber hinaus für die Kostenprognose die Einschätzung, dass ein nicht unerheblicher Teil der eingeleiteten Abmahnvorgänge in gerichtliche Auseinandersetzungen mündet. Der Senat geht hierbei von der – zu Gunsten der Verfügungsklägerin eher moderaten – Annahme aus, dass ein Drittel der eingeleiteten Abmahnvorgänge im Hauptsacheverfahren über eine Instanz ausgefochten wird und ein weiteres Drittel der Abmahnvorgänge im Hauptsacheverfahren über zwei Instanzen ausgefochten wird. Hierfür kommen ein Betrag von (zumindest) 66.990,00 € (Nettosumme der eigenen und gegnerischen Rechtsanwaltskosten [jeweils Verfahrens- und Terminsgebühr sowie Auslagenpauschale, zur Vereinfachung ohne Anrechnung vorgerichtlicher Gebühren] und der Gerichtsgebühren in 14 Fällen) für die über eine Instanz betriebenen Verfahren und ein Betrag von mindestens 145.026,00 € (netto) für die über zwei Instanzen ausgefochtenen Verfahren hinzu. Die Summe der drei vorgenannten Beträge beläuft sich auf 254.353,80 €. Wiederum zu Gunsten der Verfügungsklägerin verzichtet der Senat auf die Berücksichtigung und Berechnung der Kosten für gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Ohne Erfolg beruft sich die Verfügungsklägerin in diesem Zusammenhang auf den vom Landgericht Hagen in der dortigen mündlichen Verhandlung vom 03.06.2015 erteilten Hinweis zur materiellen Rechtslage. Dieser gerichtliche Hinweis führte nicht zu einer Reduzierung des zu prognostizierenden Kostenrisikos. Es kann dahinstehen, ob die Verfügungsklägerin allein aufgrund des Hinweises – und nicht einmal eines Urteiles – eines erstinstanzlich entscheidenden Gerichtes die Annahme hegen durfte, dass mit ihren Abmahnungen kein nennenswertes Kostenrisiko verbunden sein würde. Denn die Verfügungsklägerin hat sich nach dem Erhalt dieses Hinweises nicht darauf beschränkt, in Einzelfällen – selektiv – die hier in Rede stehenden Wettbewerbsverstöße zu verfolgen, sondern sie hat aufgrund einer systematischen Sichtung des Marktes innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Abmahnungen „in Serie“ ausgesprochen. Sie musste gerade infolge dieser Häufung von Abmahnungen mit der Erhebung des Rechtsmissbrauchseinwandes durch die Abgemahnten und auch mit dem Erfolg dieses Einwandes – ungeachtet der materiellen Rechtslage – rechnen (vgl. hierzu Senat, a.a.O.); wer im Gebührenerzielungsinteresse rechtsmissbräuchlich wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche verfolgt, wird im Übrigen nach Möglichkeit ohnehin gerade solche wettbewerbsrechtlichen Vorwürfe zum Gegenstand seiner Abmahnungen machen, von deren materieller Berechtigung er überzeugt ist.
Das vorbeschriebene, die Gefahr der Erhebung des Rechtsmissbrauchseinwands begründende Abmahnverhalten der Verfügungsklägerin führte zu einer weiteren Erhöhung des rechnerischen Kostenrisikos: die Verfügungsklägerin musste mit der Erhebung von Gegenansprüchen der Abgemahnten nach § 8 Abs. 4 Satz 2 UWG rechnen, so dass dem oben genannten Kostenbetrag von 254.353,80 € noch ein Betrag von 42.337,80 € für die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Abgemahnten hinzuzurechnen ist. Insgesamt belief sich das Kostenrisiko der Verfügungsklägerin damit auf (zumindest) 296.691,60 €.
2. Dieses Kostenrisiko stand in keinem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis mehr zu der eigentlichen wirtschaftlichen Betätigung der Verfügungsklägerin.
a) Die Verfügungsklägerin bietet neben Briefkästen und ähnlichen Produkten auch sonstige Waren an. Entscheidend ist indes allein der Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit beim Verkauf von Briefkästen und ähnlichen Produkten, denn nur insoweit tritt sie in Konkurrenz zu der Verfügungsbeklagten, und nur insoweit ist sie befugt, wettbewerbsrechtlich gegen die Verfügungsbeklagte und sonstige Mitbewerber auf dem Markt für Briefkästen vorzugehen (vgl. hierzu Senat, a.a.O.).
b) Als Vergleichsgröße zu dem mit der Abmahntätigkeit eingegangenen Kostenrisiko ist der – in dem konkret in Rede stehenden Marktsegment – erzielte Umsatz grundsätzlich nicht geeignet. Der Umsatz sagt allenfalls mittelbar etwas über die Fähigkeit eines Unternehmens aus, das mit einer umfangreichen Abmahntätigkeit verbundene Kostenrisiko finanziell tragen zu können. Denn aus dem Umsatz muss zuvörderst der mit der (eigentlichen) wirtschaftlichen Betätigung in Verbindung stehende Betriebsaufwand finanziert werden. Insofern erweist sich die Information der Verfügungsklägerin, sie werde im Jahre 2015 einen Nettoumsatz mit Briefkästen von mehr als 500.000,00 € erzielen, als im Wesentlichen bedeutungslos.
c) Als Vergleichsgrößen sind vielmehr Kennzahlen aus dem Bereich des Betriebsvermögens (Eigenkapitals) heranzuziehen, und zwar in erster Linie der Gewinn (soweit er in dem entsprechenden Marktsegment erzielt wird) und hilfsweise – bei einer Betrachtung zu Gunsten des Abmahnenden – das Eigenkapital (soweit es mit der Geschäftstätigkeit in dem in Rede stehenden Marktsegment erwirtschaftet wurde).
Jahresabschlusskennzahlen für die Verfügungsklägerin liegen dem Senat lediglich für die Kalenderjahre 2012 und 2013 vor. Im Jahre 2012 erzielte die Verfügungsklägerin einen Jahresüberschuss von 5.873,09 € und verfügte zum Jahresende über ein Eigenkapital (=Betriebsvermögen) von 294.193,77 €. Im Jahre 2013 erzielte die Verfügungsklägerin (bei einem Jahresumsatz von mehr als 1,6 Millionen €) einen Überschuss von (lediglich) 5.491,20 € und verfügte zum Jahresende über ein Eigenkapital von 299.684,97 €.
Inwieweit diese Werte dem Verkauf von Briefkästen zuzuordnen sind, ist dabei nicht einmal bekannt. Selbst wenn der Senat – zu Gunsten der Verfügungsklägerin – unterstellt, dass jeweils der gesamte Gewinn und das gesamte Eigenkapital mit dem Vertrieb von Briefkästen erwirtschaftet wurden, bestand zwischen diesem Geschäft und der hier zu beurteilenden Abmahntätigkeit kein auch nur ansatzweise kaufmännisch vernünftiges Verhältnis mehr. Das Kostenrisiko aus der Abmahntätigkeit beträgt jeweils ca. das 50-fache des erzielten Jahresgewinns, die zu prognostizierenden Kosten würden das im Betrieb vorhandene Eigenkapital (nahezu) vollständig aufzehren. Ein derart hohes Kostenrisiko würde ein vernünftig handelnder Kaufmann grundsätzlich nicht eingehen. Eine Ausnahmesituation, in der ein derartiges Kostenrisiko gerechtfertigt sein könnte, liegt nicht vor. So mag ein Unternehmer, der von wettbewerbswidrig handelnden Mitbewerbern aus dem Markt gedrängt zu werden droht, ein Interesse an einer umfassenden Marktbereinigung haben, auch wenn eine solche mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden ist. Hiervon ist die Verfügungsklägerin indes weit entfernt. Nach ihren eigenen Angaben (Seite 2 des Schriftsatzes vom 10.09.2015 = Blatt 361 der Gerichtsakte) hat sich ihr Absatz auf dem Markt für Briefkästen im Jahre 2015 sogar „deutlich erhöht“.
Nicht zu überzeugen vermag die Argumentation der Verfügungsklägerin, sie erziele mit dem Verkauf von Briefkästen einen nicht unerheblichen Rohertrag (Umsatzerlöse abzüglich Wareneinkauf) und die im Vergleich zum Umsatz nur relativ geringen Gewinne resultierten aus den sonstigen Aufwandspositionen in ihrer Gewinn- und Verlustrechnung. Bei diesen sonstigen Aufwandspositionen könne sie, die Verfügungsklägerin, Einsparungen vornehmen, um Geldmittel für die Finanzierung der Abmahntätigkeit zu beschaffen. Diese Argumentation lässt außer Acht, dass die Verfügungsklägerin diese sonstigen Aufwandspositionen offenkundig in der Vergangenheit für kaufmännisch erforderlich und sinnvoll gehalten hat. Ein vernünftiger Kaufmann wird indes seine – zuvor für sinnvoll erachtete – Aufwandsstruktur zur Finanzierung einer Abmahnkampagne nur dann verändern, wenn er sich auf dem Markt in einer bedrängten Situation befindet, was indes auf die Verfügungsklägerin – wie bereits gezeigt – nicht zutrifft. Damit ist auch die Äußerung der Verfügungsklägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, ihr Geschäftsführer könne zukünftig bei seinen Geschäftsreisen nach Hongkong nur noch in der „Economy-Class“ statt in der Business-Klasse fliegen, ohne Relevanz.
Auch das Vorbringen der Verfügungsklägerin, ihr wirtschaftlich sehr solventer Geschäftsführer und Gesellschafter sei bereit, ihr in Form nachrangiger Gesellschafterdarlehen weiteres Eigenkapital (im bilanzanalytischen Sinne) zuzuführen, um gegebenenfalls die Finanzierung der Abmahnserie sicherzustellen, führt zu keiner anderen Beurteilung. Zum einen würde es sich bei einem solchen Mittelzufluss nicht um Einnahmen aus dem Briefkastengeschäft handeln – und nur diese sind entscheidend –, zum anderen hat ein vernünftiger Kaufmann in einer Marktsituation, in der sich sein Absatz „deutlich erhöht“, keine Veranlassung, seinem Betrieb nur für die Finanzierung einer umfangreichen Abmahntätigkeit neues Eigenkapital zur Verfügung zu stellen.
3. Ein vernünftig handelnder Kaufmann in der wirtschaftlichen Situation der Verfügungsklägerin – zumal bei ohnehin steigendem Absatz in dem betreffenden Marktsegment – hätte sein Kostenrisiko durch ein gestaffeltes und zeitlich gestrecktes Vorgehen bei der Abmahnung von Mitbewerbern minimiert und nicht eine derart umfangreiche Abmahntätigkeit innerhalb kürzester Zeit wie die Verfügungsklägerin entfaltet. Im Falle der Verfügungsklägerin ergibt die Gesamtwürdigung aller hier erörterten Umstände hingegen, dass diese nach der Erteilung des gerichtlichen Hinweises in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Hagen am 03.06.2015 im ausschließlichen oder zumindest ganz überwiegenden Gebührenerzielungsinteresse bestrebt war, möglichst viele Vertreiber der in Rede stehenden Briefkästen abzumahnen, bevor die beanstandeten Kennzeichnungsverstöße von dem Herstellerunternehmen und den Vertreibern – sei es freiwillig, sei es aufgrund gerichtlichen Zwanges – abgestellt werden.
4. Zu Gunsten der Verfügungsklägerin hat der Senat im vorliegenden Verfahren davon abgesehen, die ab August 2015 versandten Abmahnungen an „I-bau“-Baumärkte in die Betrachtung mit einzubeziehen. Gleichwohl kann der Senat nicht umhin zu bemerken, dass vieles dafür spricht, dass die Berücksichtigung dieser Abmahnungen die hier vorgenommene Wertung weiter unterstützt und erhärtet hätte.
C.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO.
D.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird wie folgt festgesetzt:
bis zum 08.09.2015: 13.334,00 €
(Berufung der Verfügungsklägerin: 6.667,00 €;
Berufung der Verfügungsbeklagten: 6.667,00 €);
ab dem 09.09.2015: 6.667,00 €.
OLG Hamm, urteil vom 15.09.2015, Az.: 4 U 105/15