Sozialauswahl bei Änderungskündigung
Bevor ein Arbeitgeber betriebsbedingt kündigen kann, muss er die Weiterbeschäftigung unter geänderten Bedingungen verfügen, wenn diese möglich ist. Das folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Kann eine Arbeitnehmerin unter geänderten Bedingungen weiter beschäftigt werden, hat der Arbeitgeber ihr eine entsprechende Änderungskündigung anzubieten, bevor er betriebsbedingt kündigt. Das ist selbst dann verhältnismäßig, wenn die Arbeitnehmerin zuvor eine Veränderung des Vertrages ablehnt.
Zur Sachlage:
Beklagte und Klägerin streiten in zweiter Instanz über die Kündigung der Klägerin durch die Beklagte. Die Klägerin ist als Arbeitnehmerin bei der Beklagten beschäftigt gewesen. Als sich die wirtschaftliche Situation der Beklagten ändert, kündigt sie der Klägerin unter folgendem Hintergrund:
Die Beklagte war aufgrund von Kundenrückgang gezwungen, sieben Sanitätshäuser auf zwei Geschäfte zu reduzieren. Um die Arbeit zu bewältigen, bedurfte es weniger Arbeitnehmer für Einkauf und Abrechnung. Die Klägerin war zuvor für die Abrechnung zuständig. Die Beklagte verfügte die Zusammenlegung von Einkauf und Abrechnung mit einer neuen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden für eine Arbeitskraft. In Folge kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin aus betriebsbedingten Gründen. Den Arbeitsplatz besetzte sie mit einer anderen Arbeitnehmerin, die jünger und kinderlos ist. Die Klägerin klagte daraufhin beim Arbeitsgericht Stralsund. Gleichzeitig erhob sie gegen die Beklagte einen Anspruch auf finanzielle Nachzahlung wegen bisher unvergüteter Überstunden.
Das Arbeitsgericht Stralsund gab der Kündigungsschutzklage der Klägerin statt; widersprach allerdings ihrem Anspruch auf Nachzahlung wegen angeblich unvergüteter Überstunden.
Die betriebsbedingte Kündigung sei rechtsunwirksam. Das Gericht konnte nicht erkennen, inwieweit die Entscheidung der Beklagten unternehmerisch notwendig geworden sei. Die Kündigung ist auch deshalb rechtsunwirksam, weil die Beklagte die Sozialdaten vergleichbarer Arbeitnehmer nicht vorgelegt hat. Aufgrund des Übermaßverbots, das die Grundrechte des Einzelnen schützt, sei die Beklagte verpflichtet gewesen, der Klägerin eine Änderungskündigung vorzulegen.
Bezüglich der Überstunden befand das Gericht den Vortrag der Klägerin substanzlos. Sie blieb den Nachweis schuldig, wann genau sie die Überstunden geleistet hat.
Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte legten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vor dem Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern Berufung ein.
Die Beklagte argumentiert vor dem Landesarbeitsgericht, dass aufgrund der Geschäftsaufgabe zwangsläufig, ohne ihre Absicht, Arbeitsplätze wegfielen. Die Zusammenlegung von Einkauf und Abrechnung sowie die Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit sei diesem Umstand geschuldet. Bevor sie der Klägerin kündigte, bot sie ihr an, den Arbeitsvertrag zu ändern. Ob die Klägerin fachlich in der Lage sein würde, den Einkauf mit zu übernehmen, wusste die Beklagte angeblich nicht. Die Klägerin lehnte das Angebot der wöchentlichen Mehrarbeit von 10 Stunden bei gleicher Vergütung und zusätzlicher Übernahme des Einkaufs ab. Daraufhin kündigte die Beklagte der Klägerin. Den Arbeitsplatz erhielt die jüngere und kinderlose Arbeitnehmerin, die aus Sicht der Beklagten einzig dafür geeignet ist. Die Pflicht auf Änderungskündigung gegenüber der Klägerin sieht die Beklagte nicht.
Zur Frage der Überstunden sagte die Beklagte, dass sie diese nicht angewiesen hat, sodass sie auch nicht zu bezahlen sind.
Die Beklagte beantragt mit der Berufung, die Klage hinsichtlich der unvergüteten Überstunden zurückzuweisen und das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund in Bezug auf die Kündigung zu ändern.
Die Klägerin untermauert vor dem Landesarbeitsgericht ihre Position wie folgt: Die Beklagte hätte ihr ohne Gespräch eine Vertragsänderung vorlegt. Diese lehnt sie aufgrund der Verlängerung der Arbeitszeit bei gleicher Vergütung ab.
Bezüglich der unvergüteten Mehrarbeit habe das Arbeitsgericht Stralsund die Situation verkannt. Die Beklagte selbst hätte die Arbeitszeitnachweise eingeführt und durch die Chefsekretärin gegenzeichnen lassen. Somit war der Beklagten die Zahl der Überstunden bekannt, die diese stillschweigend duldete. Aufgrund der Anscheins- und Duldungsvollmacht sind die Überstunden durch die Beklagte zu vergüten.
Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern folgte in seinem Urteil der Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts Stralsund.
Die Kündigung der Klägerin ist nach § 1 Kündigungsschutzgesetz rechtsunwirksam. Berechtigt ist eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung nur dann, wenn sie dringend betrieblich erforderlich ist. Dringend bedeutet, es besteht keinerlei Möglichkeit, die Arbeit technisch und wirtschaftlich anders zu organisieren. Anderenfalls ist dem Arbeitnehmer vor einer ordentlichen Beendigungskündigung durch den Arbeitgeber ein freier Arbeitsplatz auch zu geänderten Bedingungen anzubieten. Die freien Stellen hat der Arbeitgeber nach sozialen Gerichtspunkten zu besetzen. Die Beklagte kann demnach nicht einfach sagen, die Stelle sei mit einer anderen Arbeitnehmerin besetzt. Vielmehr kann sich die Klägerin, die zwei Kindern unterhaltspflichtig ist, auf soziale Gesichtspunkte berufen. Die Klägerin wäre gegenüber der jüngeren und kinderlosen Arbeitnehmerin vorzuziehen gewesen.
Die Aussage der Beklagten, die Klägerin sei nicht in der Lage, den Einkauf ebenfalls zu übernehmen, wies das Landesarbeitsgericht zurück. Die Beklagte selbst hätte der Klägerin in einem Gespräch diese Aufgabe angeboten. Demnach musste sie davon ausgehen, dass die Klägerin die Aufgabe erfüllen kann.
Auch das Argument der Beklagten, die Klägerin habe ein Änderungsangebot abgelehnt, überzeugt die Richter des Landesarbeitsgerichts nicht. Ordentlich kündigen könnte die Beklagte nur dann, wenn die Klägerin das Angebot strikt ablehnt. Den Beweis hat die Beklagte zu erbringen. Im vorliegenden Fall ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin vor einer ordentlichen Beendigungskündigung die Änderungskündigung vorzulegen.
Bezüglich der unbezahlten Überstunden sah das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern die Beklagte frei von Nachzahlungsansprüchen der Klägerin.
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19.03.2014, 3 Sa 128/13