Kündigung wegen Diebstahls
In einer Automobilfirma verschwanden in den Jahren 2010 bis Anfang 2012 immer wieder massenhaft leere Pfandflaschen. Im November 2011 waren es sogar 100 Stück aus einem besonders gesicherten Bereich, zu dem nicht jeder Mitarbeiter Zutritt hat. Nicht einmal vor dem Vorzimmer des dortigen Abteilungsleiters machte der Dieb Halt.
Die Firma gibt an ihre Mitarbeiter Werksausweise aus, die gleichzeitig als Geldkarte dienen. Mit dieser Karte können sie in der Kantine und am Getränkeautomaten bezahlen. Das Flaschenpfand wird bei Rückgabe auf diese Karte gutgebucht. Firmenbesucher erhalten eine Gästekarte mit denselben Funktionen, die nicht persönlich zugeordnet werden kann.
Eine Überprüfung der Getränkeautomaten nach auffälligen Pfandgutschriften ergab, dass am 06. November mehr als 100 Pfandflaschen auf die Gästekarte Nr.412612 gutgeschrieben worden waren. Als Benutzer dieser Karte wurde ein Maschinist der Firma ausfindig gemacht und vom Werksschutz dem Ermittlungsdienst übergeben.
Der bislang völlig unbescholtene Mann gab zu, die Flaschen, die er am 06. November in die Automaten geworfen hatte, in der Woche zuvor im ganzen Werksbereich eingesammelt zu haben. Zusätzlich gestand er, seit ca. ein bis eineinhalb Jahren Pfandflaschen an sich zu nehmen. Er bestritt jedoch den Diebstahl von Flaschen aus dem gesicherten Bereich; zu diesem habe er keinen Zutritt. Doch die Firma war überzeugt, er sei durch ein geöffnetes Fenster oder über das Dach in den Sektor eingestiegen, um sich die Flaschen anzueignen und sprach mit Zustimmung des Personalausschusses die verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung aus.
Gegen diese Kündigung reichte der Mann Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Kassel ein. Die Befragung durch den Werkschutz sei suggestiv gewesen. Mit dem Diebstahl von Flaschen aus dem gesicherten Sektor habe er nichts zu tun. Er gab an, dass er seit 2007 unter einer psychischen Krankheit leidet und sein Verhalten nur teilweise steuern kann. Dies belegt ein Gutachten seiner behandelnden Fachärztin.
Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Die Tatsache, dass er eine anonyme Gästekarte benutzt und zielgerichtet gehandelt habe, beweise seine Schuldfähigkeit. Außerdem ist es der Firma nicht zuzumuten, einen steuerungsunfähigen Mitarbeiter weiter zu beschäftigen, der seine Kollegen bestohlen hat.
Das vom Arbeitsgericht eingeholte Sachverständigengutachten deckte sich mit dem seiner behandelten Fachärztin. Demnach leidet der Kläger unter einer psychischen Störung, die dem manisch-depressiven Bereich zuzuordnen ist und sich in der Veränderung der Persönlichkeit äußert. Unrechtsbewusstsein und Einsichtsfähigkeit sind phasenweise aufgehoben. Der Erkrankte kann seine Handlungen nicht mehr ausreichend steuern. Diese Krankheit kommt durchaus als Ursache für sein Fehlverhalten in Frage.
Das Arbeitsgericht Kassel gab der Kündigungsschutzklage und dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers statt. Die Kündigung ist unwirksam, da das Fehlverhalten des Klägers auf seine Erkrankung zurückzuführen und er somit nicht voll schuldfähig ist.
Gegen dieses Urteil legte die Firma beim Hessischen Landesarbeitsgericht Berufung ein. Dass der Kläger nicht voll schuldfähig war, sei nicht erwiesen. In dem entsprechenden Zeitraum befand er sich bereits auf dem Wege der Genesung und war wieder voll arbeitsfähig.
Der Kläger beantragte, die Berufung zurückzuweisen. Aus seinem Sachverständigengutachten geht hervor, dass er in dem fraglichen Zeitraum nicht schuldfähig war. Die Behauptung der Firma, er sei in den gesicherten Bereich eingestiegen, um Flaschen zu entwenden, ist völlig absurd. Er habe keinerlei Möglichkeit gehabt, dort einzudringen, weder über das Dach noch über ein Fenster. Er habe nur die fremden Pfandflaschen in die Automaten geworfen, die in der Nähe herumgestanden hätten. Dabei sei er sich eines Fehlverhaltens gar nicht bewusst gewesen und davon ausgegangen, dass diese "herrenlos" wären.
Das Landesarbeitsgericht Hessen schloss sich dem Urteil der ersten Instanz an. Das Fehlverhalten des Klägers ist nicht derart schwerwiegend, dass es auch ohne Verschulden eine fristlose Kündigung rechtfertigen würde. Auch weist nichts darauf hin, dass von ihm eine Gefahr für seine Kollegen ausgeht.
Der Kläger hatte die unstimmigen Pfandgutschriften der Gästekarte damit erklärt, dass er täglich einige volle Flaschen von zuhause mitgebracht und nach dem Leeren am Getränkeautomaten abgegeben habe. Dies und seine Aussage, er habe nur die Flaschen eingesammelt, die von ihren Besitzern vor den Automaten abgestellt und somit aufgegeben worden waren, hielt das Gericht für unglaubwürdig. Den Beweis, dass der Kläger sich unbefugt Zutritt zum gesicherten Bereich verschafft und dort Flaschen angeeignet hat, konnte die Beklagte nicht erbringen.
Das Sachverständigengutachten belegt, dass der Kläger im gesamten fraglichen Zeitraum schwer psychisch erkrankt war und sein Verhalten nicht steuern konnte. Somit ist davon auszugehen, dass der Kläger zur Tatzeit schuldunfähig war. Die Kündigung ist unwirksam, das Interesse des Klägers überwiegt. Die Beklagte ist verpflichtet, ihn weiter zu beschäftigen.
Pfandflaschen einzusammeln, die einem nicht gehören, und sich das Pfand gutschreiben zu lassen, ist normalerweise ein Grund für fristlose Kündigung. Dies gilt nicht, wenn jemand aufgrund geistiger oder psychischer Beeinträchtigung nicht erkennen kann, dass er Unrecht begeht.
LAG Hessen, Urteil vom 10.01.2014, Az. 14 Sa 800/13