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Voraussetzungen für zulässige Verdachtsberichterstattung

| Rechtsanwalt Frank Weiß

Die identifizierende Verdachtsberichterstattung gehört zu den sensibelsten Bereichen des Medienrechts. Wird über einen konkreten Verdacht öffentlich berichtet und eine Person erkennbar gemacht, kollidieren zwei zentrale Grundrechte:

Während die Medien ein berechtigtes Interesse haben, über Missstände und mutmaßliches Fehlverhalten zu berichten, besteht auf Seiten der Betroffenen ein hoher Schutz davor, öffentlich „an den Pranger gestellt“ zu werden – insbesondere, wenn noch keine gerichtliche Feststellung der Schuld vorliegt.

Mit seinem Urteil vom 20.06.2023 hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Voraussetzungen für eine zulässige identifizierende Verdachtsberichterstattung weiter präzisiert und konkretisiert.

Der Fall: BGH VI ZR 262/21 – „Der Botschafter-Fall“

Der Sachverhalt – Was war geschehen?

Ein hochrangiger armenischer Diplomat sah sich 2020/2021 massiver Medienberichterstattung ausgesetzt. In Berichten des SPIEGEL und des MDR wurde ihm eine Nähe zur organisierten Kriminalität unterstellt. Die Medien bezogen sich auf:

  • ein vertrauliches BND-Gutachten aus 2008,
  • ein BKA-Vermerk von 2018,
  • interne polizeiliche Bewertungen,
  • Auslandsüberweisungen und Immobilienbesitz.

Es wurde u. a. behauptet, der Diplomat sei ein sogenannter „Dieb im Gesetz“ – ein Begriff aus der russischen Mafia-Hierarchie, der auf eine besondere kriminelle Autorität verweist.

Obwohl kein Strafverfahren gegen ihn lief und auch keine rechtskräftige Verurteilung vorlag, wurde der Mann in der Berichterstattung namentlich genannt, sein Bild veröffentlicht und seine diplomatische Funktion ausführlich dargestellt.

Der Diplomat klagte gegen die Berichterstattung auf Unterlassung – mit Erfolg.

Die Instanzen

  • LG Berlin (2020): gab der Klage in weiten Teilen statt.
  • Kammergericht (2021): wies die Klage teilweise ab, ließ jedoch die Bezeichnung „Dieb im Gesetz“ zu.
  • BGH (2023): hob das Urteil des Kammergerichts auf und stellte die umfassendere Untersagung des LG Berlin wieder her.

Der Leitsatz

Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen, erforderlich.
Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten.
Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen.
Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.

Die Entscheidungsgründe des BGH – im Detail

1. Mindestbestand an Beweistatsachen

Der BGH fordert substantielle, überprüfbare Fakten, die einen Verdacht überhaupt journalistisch vertretbar machen. Reine Behauptungen oder interne Einschätzungen von Behörden genügen nicht.

Im konkreten Fall:

  • Das BND-Gutachten war über 12 Jahre alt.
  • Das BKA-Dokument beruhte auf nicht weiter belegten Verdächtigungen.
  • Es lag kein Ermittlungsverfahren, keine Anklage, keine Verurteilung vor.
  • Der Diplomat konnte viele angebliche Auffälligkeiten (z. B. Bargeldeinzahlungen) erklären.

Fazit: Die Medien hätten die Vorwürfe nicht einfach übernehmen dürfen – schon gar nicht bei namentlicher Nennung.

2. Verbot der Vorverurteilung

Die Darstellung darf nicht den Eindruck erwecken, der Betroffene sei bereits schuldig – dies wäre eine Umgehung der Unschuldsvermutung und damit verfassungsrechtlich unzulässig.

Problematisch waren Formulierungen wie:
„Er gilt als Kopf einer kriminellen Vereinigung …“
„Dem armenischen Botschafter wird von Ermittlungsbehörden Nähe zur Mafia nachgesagt …“

Diese Aussagen stellen keine neutrale Verdachtsberichterstattung dar, sondern suggerieren eine faktische Überführung – ohne Beweise.

3. Obligatorische Anhörung des Betroffenen

Vor einer identifizierenden Berichterstattung muss dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Der BGH betont, dass diese:

  • vorab und
  • substanziell sein muss.

Der Botschafter war zwar kontaktiert worden, allerdings mit vagen Fragen und kurzer Frist. Zudem waren dem Betroffenen die konkreten Vorwürfe nicht umfassend dargelegt worden.

Dies genügt nicht den Anforderungen an journalistische Sorgfalt.

4. Informationsinteresse der Öffentlichkeit

Zwar kann bei einem hochrangigen Diplomaten ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit bestehen. Dieses muss aber gegen das Persönlichkeitsrecht abgewogen werden.

Im konkreten Fall:

  • Keine aktuellen Straftaten
  • Keine laufenden Ermittlungen
  • Keine Funktion mit unmittelbarer Einflussnahme auf deutsche Politik

Der BGH verneinte das notwendige Maß an „gravierender Relevanz“, das eine identifizierende Verdachtsberichterstattung rechtfertigen könnte.

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