Urheberrechtlicher Schutz beim Abriss eines Gebäudes

Wenn ein Gebäude zur juristischen Grauzone wird
Was passiert, wenn ein Bauwerk mehr ist als nur Mauerwerk – wenn es ein Kunstwerk ist? Und was, wenn genau dieses Kunstwerk der Baggerkralle weichen soll, weil es marode ist und ein Wohnungsunternehmen bezahlbaren Wohnraum schaffen möchte?
Das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg (Urt. v. 22.10.2024 - Az.: 6 U 58/22) musste in einem solchen Fall über die Kollision zweier gewichtiger Rechte entscheiden: Urheberrecht vs. Eigentum.
Der Fall „T.-Haus“ ist eine Blaupause für diese hochaktuelle Problematik und liefert zugleich neue Maßstäbe für die Praxis.
1. Der konkrete Fall: Das T.-Haus in P. – Ein Baukunstwerk im Streit
1.1 Die Beteiligten
Klägerin: Eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft der Stadt P., verantwortlich für Erwerb, Erhalt und Bewirtschaftung von Immobilien im Sinne der kommunalen Daseinsvorsorge nach § 2 Abs. 2 BbgKVerf.
Beklagte: Zwei Architekten, die in den späten 1990er Jahren mit der Planung und Bauüberwachung eines größeren Wohnprojekts – darunter auch das T.-Haus – beauftragt wurden.
1.2 Das Bauwerk
Im Mittelpunkt des Streits: das sog. T.-Haus, ein fünfgeschossiger Wohnblock mit 38 Wohnungen auf rund 2.700 m² Wohnfläche. Errichtet zwischen 1998 und 2002, bildet es gemeinsam mit weiteren „S.-Häusern“ und „A.-Häusern“ ein städtebaulich ambitioniertes Gesamtkonzept. Die Bauten waren über Glas-Stahl-Konstruktionen verbunden, eine gemeinsame Tiefgarage und ein einheitlich gestalteter Außenbereich rundeten das Ensemble ab – eine „urbane Wohnlandschaft mit gestalterischem Anspruch“.
2. Die Vorgeschichte: Technische Mängel und wirtschaftlicher Schaden
Schon bald nach der Fertigstellung kam es zu massiven Baumängeln am T.-Haus:
- 2001: Erste Feuchtigkeitsschäden.
- 2004–2008: Wiederkehrende Undichtigkeiten an Dach und Fassade.
- 2013: Eine Havarie verursachte erhebliche Durchfeuchtungen und machte Rückbaumaßnahmen nötig.
- 2018: Kündigung aller Mietverträge wegen Unwirtschaftlichkeit.
Insgesamt bezifferte die Klägerin den wirtschaftlichen Schaden auf rund 3,3 Millionen Euro. Sie erklärte das Gebäude als nicht mehr wirtschaftlich nutzbar. Die Lösung: Abriss und Neubau mit 90 modernen Wohnungen auf 5.750 m² Wohnfläche und rund 100 Stellplätzen – ein Projekt, das dem Zweck der Daseinsvorsorge dienen und dringend benötigten bezahlbaren Wohnraum schaffen soll.
3. Die Eskalation: Urheberrecht contra Abriss
Die Architekten beriefen sich auf ihr Urheberrecht (§§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 14 UrhG). Sie argumentierten:
- Das T.-Haus sei Teil eines gestalterischen Gesamtkunstwerks.
- Der geplante Abriss stelle eine unzulässige Entstellung ihres Werkes dar (§ 14 UrhG).
- Sie verweigerten ausdrücklich ihre Zustimmung zur Zerstörung.
Die Klägerin wiederum stellte klar: Eine Sanierung sei wirtschaftlich nicht darstellbar, der Neubau sei alternativlos und diene dem öffentlichen Interesse.
4. Die rechtliche Bewertung durch das OLG Brandenburg
4.1 Urheberrechtlich geschütztes Werk? Ja!
Das OLG bestätigte, dass das T.-Haus in Verbindung mit der Gesamtanlage als urheberrechtlich geschütztes Bauwerk gilt. Die gestalterische Individualität und die erkennbare „Handschrift“ der Architekten erfüllten die Voraussetzungen einer persönlichen geistigen Schöpfung im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG.
4.2 Eingriff in das Urheberrecht? Ebenfalls: Ja.
Der geplante Abriss des T.-Hauses stellt nach Ansicht des Gerichts einen erheblichen Eingriff in das Urheberrecht der Architekten dar – insbesondere im Sinne einer möglichen Entstellung (§ 14 UrhG), da mit der Zerstörung auch der architektonische Gesamtzusammenhang unwiderruflich verloren ginge.
4.3 Aber: Eigentümerinteresse überwiegt
Trotzdem gab das Gericht der Klägerin Recht. Die Abrissmaßnahme sei zulässig. Warum?
Das OLG Brandenburg betonte, dass das Eigentumsrecht des Bauherrn – vor allem bei Bauwerken – ein deutlich größeres Gewicht hat als bei anderen Werkarten. Denn:
- Der Architekt weiß bei Beauftragung, dass sein Werk einem bestimmten Gebrauchszweck dienen soll.
- Daraus ergibt sich, dass sich das Werk später verändern oder gar verschwinden kann – etwa durch Abriss oder Umbau.
- Der Eigentümer hat legitime Interessen an wirtschaftlicher Nutzbarkeit und an der Anpassung an sich wandelnde Bedürfnisse.
4.4 Besondere Umstände des Einzelfalls
Das Gericht stellte fest, dass im vorliegenden Fall mehrere Faktoren den Ausschlag geben:
- Das T.-Haus sei nicht mehr nutzbar, eine Sanierung sei wirtschaftlich unvertretbar.
- Die Klägerin verfolge mit dem Neubau ein öffentliches Interesse (bezahlbarer Wohnraum).
- Der geplante Ersatzbau berücksichtige aktuelle Anforderungen an Ökonomie, Nachhaltigkeit und Energieeffizienz.
- Ein Verkauf des Grundstücks zur Erhaltung des ursprünglichen Zustands sei nicht sinnvoll.
Das Urteil formuliert es deutlich:
„Deshalb tritt das Interesse des Urhebers am Fortbestehen eines Bauwerks in aller Regel hinter die Interessen des Gebäudeeigentümers an einer anderweitigen Gebäudenutzung und einer damit einhergehenden Zerstörung des Kunstwerks zurück, sofern sich nicht aus den Umständen des Einzelfalls etwas anderes ergibt.“
5. Bewertung und Bedeutung der Entscheidung
Das Urteil setzt ein klares Signal für die Praxis: Architekten müssen bei der Planung von Bauwerken stets bedenken, dass ihre Urheberschaft nicht absolut ist. Das Eigentumsrecht ist ein starkes Gegengewicht – besonders, wenn die wirtschaftliche Nutzung gefährdet ist und öffentliche Interessen berührt sind.
Besonders relevant für:
- Kommunale Wohnungsunternehmen, die alte Bausubstanz durch zeitgemäßen Wohnraum ersetzen wollen.
- Architekten, die den Umfang ihres Urheberrechts realistisch einschätzen müssen.
- Rechtsberater, die zwischen Werkrecht und Sachrecht vermitteln.
6. Fazit: Kein Denkmal für jedes Bauwerk
Das T.-Haus war architektonisch wertvoll – keine Frage. Doch in der Abwägung zwischen Kunst und Gemeinwohl setzte das OLG Brandenburg auf das Gebot der Vernunft: Wenn ein Bauwerk nicht mehr nutzbar ist, Millionen verschlingt und den Fortschritt bremst, darf es weichen – auch wenn es ein geistiges Werk ist.
Das Urteil zeigt exemplarisch, wie das Recht sachlich, lösungsorientiert und differenziert agieren kann – und bietet künftigen Auseinandersetzungen ein solides Fundament.
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Alexander Bräuer
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