Keine Sittenwidrigkeit bei 100 % Preisaufschlag im stationären Handel

Wer online Preise vergleicht, kennt es: Im stationären Geschäft ist dieselbe Ware oft deutlich teurer. Doch wann ist teuer „zu teuer“ – also rechtlich sittenwidrig? Das Amtsgericht Erfurt hatte über genau diese Frage zu entscheiden: Eine Kundin kaufte in einem Perückengeschäft für rund 4.000 Euro ein, fand später im Internet vergleichbare Angebote zwischen 1.200 und 2.000 Euro – und fühlte sich betrogen.
Ihre Klage auf Rückzahlung nach § 138 BGB – wegen Sittenwidrigkeit – wurde abgewiesen. Das Urteil (AG Erfurt, Urt. v. 17.08.2022 – 5 C 522/21) hat Signalwirkung für Händler und Kunden gleichermaßen. Es erklärt, warum selbst ein 100 % höherer Preis im Laden rechtlich zulässig sein kann.
Der Fall vor dem AG Erfurt – Sachverhalt und Ausgangslage
Die Klägerin ließ sich in einem Perückengeschäft persönlich beraten. Aufgrund einer medizinischen Indikation (mutmaßlich Haarverlust durch Krankheit) entschied sie sich zum Kauf einer hochwertigen Echthaarperücke für knapp 4.000 Euro. Erst nach dem Kauf recherchierte sie online und fand dort Preise von 1.200 bis 2.000 Euro für ähnliche Produkte.
Ihr Vorwurf:
- Die Verkäuferin habe ihre „Zwangslage“ ausgenutzt.
- Der Preis sei sittenwidrig überhöht.
- Das Geschäft müsse rückabgewickelt werden.
Sie stützte sich auf § 138 Abs. 1 BGB, der sittenwidrige Rechtsgeschäfte für nichtig erklärt. Das Gericht folgte dieser Argumentation jedoch nicht – mit einer bemerkenswert differenzierten Begründung.
Preisunterschiede allein machen kein Geschäft sittenwidrig
Zentraler juristischer Prüfungsmaßstab war § 138 Abs. 1 BGB. Danach ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig, wenn es gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt – eine sogenannte Generalklausel. Im Wirtschaftsleben wird dies häufig mit auffälligem Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (Preissittenwidrigkeit) kombiniert.
Doch: Allein ein hoher Preis genügt noch nicht!
Das Gericht argumentierte:
- Die Klägerin hat sich freiwillig entschieden, das Produkt im Geschäft zu kaufen.
- Ein objektives Preis-Missverhältnis ist nicht beweisbar, da nur wenige Vergleichsangebote aus dem Internet vorgelegt wurden.
- Online-Preise stellen keine geeignete Vergleichsgrundlage dar.
Online-Handel ≠ stationärer Handel – zwei völlig verschiedene Märkte
Ein Kerngedanke des Urteils ist die strikte Unterscheidung zwischen Online- und Offline-Handel:
"Es muss [...] deutlich zwischen Online-Handel einerseits und stationärem Handel andererseits [...] unterschieden werden."
Warum ist das wichtig?
Der stationäre Handel hat:
- Höhere Fixkosten (Miete, Personal, Energie)
- Höheren Beratungsaufwand (z. B. intensive medizinische Beratung bei Perücken)
- Standortvorteile (Innenstadtlage mit Laufkundschaft)
Diese Kosten schlagen sich – rechtlich legitim – auf den Preis nieder. Der Onlinehandel hingegen spart an:
- Miete
- Verkaufsfläche („Showroom“ entfällt)
- Personal (weniger Beratung, weniger Mitarbeiter)
Daher ist der Online-Preis kein belastbarer Maßstab, um Sittenwidrigkeit zu begründen.
Kein Ausnutzen einer Zwangslage – Kundenautonomie bleibt entscheidend
Auch die behauptete „Zwangslage“ der Klägerin (wegen medizinischer Notwendigkeit) konnte das Gericht nicht feststellen. Es betonte:
„Unter Heranziehung des [...] Gedankens der Privatautonomie ist es dem Kunden unbenommen, das Beratungs- und Kauferlebnis vor Ort [...] wahrzunehmen oder die Ware online [...] kostengünstiger [...] zu bestellen.“
Das bedeutet:
- Jeder Kunde kann selbst entscheiden, ob er Beratung und Anprobe wünscht.
- Kostenbewusstsein darf vorausgesetzt werden – auch bei medizinischen Hilfsmitteln.
- Wer sich bewusst für den stationären Einkauf entscheidet, trägt auch den Preisunterschied mit.
Der Internethandel als Sondermarkt – eine interessante Rechtsfigur
Das AG Erfurt spricht dem Onlinehandel den Charakter eines Sondermarkts zu. Das bedeutet:
- Er ist nicht mit dem lokalen Markt vergleichbar.
- Er hat eigene Regeln, Strukturen und Preisbildungen.
Diese Differenzierung hat große Bedeutung:
- Preisvergleiche über Plattformgrenzen hinweg (stationär vs. online) sind nicht automatisch tauglich, um Sittenwidrigkeit zu begründen.
- Selbst massive Unterschiede sind rechtlich vertretbar, wenn sie wirtschaftlich erklärbar sind.
Bewertung und rechtliche Einordnung
a) Maßstab für Sittenwidrigkeit bleibt streng
Die Schwelle für § 138 BGB ist hoch:
- Reine Vertragsfreiheit gilt als Grundsatz.
- Eingriffe in private Preisabreden sind nur bei krassen Missverhältnissen zulässig.
- Es braucht mehr als „nur“ einen hohen Preis – etwa eine Ausbeutungslage oder Täuschung.
b) Konsumentenschutz ≠ Preisregulierung
Das Urteil zeigt, dass die Rechtsprechung nicht zum Preiskontrolleur wird. Auch wenn Verbraucher sich „abgezockt“ fühlen – nicht jedes „teure“ Geschäft ist juristisch zu beanstanden.
Bedeutung für Händler und Verbraucher
Für Händler:
- Sie dürfen ihre Preise wirtschaftlich kalkulieren – auch mit deutlichem Aufschlag zum Onlinehandel.
- Beratung, Standort und Service sind rechtlich anerkannt als Mehrwert.
- Wichtig: Preistransparenz und keine Irreführung.
Für Verbraucher:
- Online-Vergleich ist wichtig – aber nicht rechtlich durchsetzbar, wenn man sich im Laden zum Kauf entschließt.
- Beratungsleistung hat einen Preis – und dieser ist nicht sittenwidrig, nur weil es online billiger geht.
- Ein Preisnachteil im stationären Handel ist kein Schadensersatzgrund.
Fazit: Keine Sittenwidrigkeit trotz hoher Preisunterschiede
Das Urteil des Amtsgerichts Erfurt (Az. 5 C 522/21) schafft Klarheit:
Preisunterschiede von 100 % zwischen stationärem und Onlinehandel sind nicht automatisch sittenwidrig. Vielmehr gilt:
- Der Einzelhandel darf wirtschaftlich kalkulieren.
- Kunden sind frei in ihrer Entscheidung – und tragen Verantwortung.
- Der Onlinehandel ist kein rechtlicher Maßstab für stationäre Preisvergleiche.
Gerade in Zeiten zunehmender Digitalisierung bietet diese Entscheidung eine wertvolle Orientierung. Sie schützt den stationären Handel vor ungerechtfertigten Rückforderungsansprüchen – und erinnert zugleich Verbraucher daran, dass Beratung und Service nicht kostenlos sind.
Ansprechpartner
Alexander Bräuer
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