Selektive Vertriebssysteme: Informationen für Hersteller und Händler

In einer Welt, in der Produkte in Sekundenschnelle über Online-Marktplätze weltweit verfügbar sind, stehen Hersteller vor einer zentralen Herausforderung: Wie kann die Exklusivität und Qualität eines Produkts gewahrt bleiben, wenn es überall und von jedem verkauft werden kann?
Gerade im Luxus- und Premiumsegment ist es essenziell, dass Produkte nicht nur verkauft, sondern auf eine Weise präsentiert und vertrieben werden, die dem Markenimage gerecht wird. Doch was passiert, wenn exklusive Designer-Taschen, High-End-Soundsysteme oder edle Parfums auf Ramsch-Marktplätzen oder in schlecht geschulten Geschäften landen? Die Markenwahrnehmung leidet, Kunden sind enttäuscht, und der Hersteller verliert die Kontrolle über sein eigenes Produkt.
Hier setzen selektive Vertriebssysteme an. Durch sie kann der Hersteller gezielt bestimmen, welche Händler seine Produkte verkaufen dürfen – und unter welchen Bedingungen. Doch damit stellt sich die Frage:
- Darf ein Hersteller bestimmte Händler einfach ausschließen?
- Ist es rechtlich zulässig, den Vertrieb über Amazon, eBay oder andere Plattformen zu verbieten?
- Welche Vorgaben für Händler sind erlaubt, welche sind kartellrechtswidrig?
Die Antwort darauf liefert das Kartellrecht. Es legt genau fest, unter welchen Bedingungen selektive Vertriebssysteme zulässig sind und wo die Grenzen liegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) und nationale Gerichte haben hierzu klare Leitlinien entwickelt, die Unternehmen kennen müssen, um sich rechtlich abzusichern.
In diesem Beitrag erfahren Sie:
- Was selektive Vertriebssysteme sind und wie sie funktionieren.
- Welche Arten selektiver Vertriebssysteme existieren – und wo die Unterschiede liegen.
- Welche kartellrechtlichen Anforderungen erfüllt sein müssen, um ein rechtssicheres Vertriebssystem aufzubauen.
- Welche Urteile des EuGH und des BGH die Rechtspraxis maßgeblich beeinflusst haben.
Ganz gleich, ob Sie Hersteller, Händler oder Rechtsberater sind – dieser Beitrag liefert Ihnen einen fundierten Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die neuesten Entwicklungen im Wettbewerbsrecht.
Was sind selektive Vertriebssysteme
Der rechtliche Rahmen
Zulässige Vertriebssysteme
Schutz vor Umgehungsversuchen
Zulässigkeit von Drittplattformverboten im selektiven Vertriebssystem
Verbotene und zulässige vertriebsbezogene Vorgaben
Was sind selektive Vertriebssysteme
Ein selektives Vertriebssystem ist eine besondere Form des Vertriebs, bei der der Hersteller oder Lieferant seine Produkte nur an bestimmte, ausgewählte Händler vertreibt. Diese Händler müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die vom Hersteller festgelegt werden. Ziel ist es, die Qualität des Vertriebs sicherzustellen, den Markenwert zu schützen und eine einheitliche Vermarktung der Produkte zu gewährleisten.
Selektive Vertriebssysteme sind insbesondere in Branchen verbreitet, in denen eine hochwertige Produktpräsentation, eine fachkundige Beratung oder ein exklusives Markenimage eine zentrale Rolle spielen. Typische Beispiele finden sich im Bereich der Luxusgüter, hochwertiger Elektronik, Kosmetik oder Automobilindustrie.
Arten selektiver Vertriebssysteme
Man unterscheidet im Wesentlichen zwischen zwei Formen selektiver Vertriebssysteme:
- Quantitativ selektive Vertriebssysteme: Hier wird die Anzahl der zugelassenen Händler begrenzt. Der Hersteller legt beispielsweise fest, dass nur eine bestimmte Anzahl von Händlern pro Region die Produkte vertreiben darf.
- Qualitativ selektive Vertriebssysteme: Hier müssen die Händler bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, um in das Vertriebssystem aufgenommen zu werden. Diese Kriterien können sich auf die Geschäftsausstattung, das Fachwissen des Verkaufspersonals oder den Kundenservice beziehen.
Die rechtliche Zulässigkeit selektiver Vertriebssysteme ist jedoch nicht uneingeschränkt gegeben. Die Anforderungen an die Händler müssen sachlich gerechtfertigt sein und dürfen nicht dazu führen, dass der Wettbewerb übermäßig beschränkt wird.
Der Europäische Gerichtshof hat sich mehrfach mit der Zulässigkeit selektiver Vertriebssysteme befasst. In der Entscheidung Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C-439/09) wurde festgestellt, dass selektive Vertriebssysteme unzulässig sein können, wenn sie den Wettbewerb unverhältnismäßig einschränken oder den Online-Handel ohne sachlichen Grund untersagen.
Selektive Vertriebssysteme sind somit ein wichtiges Instrument für Unternehmen, um die Qualität ihrer Produkte zu sichern und ihre Marke zu schützen. Gleichzeitig müssen sie mit den geltenden wettbewerbsrechtlichen Vorgaben in Einklang stehen.
Der rechtliche Rahmen
Selektive Vertriebssysteme unterliegen einer komplexen rechtlichen Bewertung, da sie den Wettbewerb potenziell einschränken können. Ihre Zulässigkeit richtet sich maßgeblich nach den Vorgaben des Art. 101 Abs. 1 AEUV, der Wettbewerbsbeschränkungen innerhalb der Europäischen Union grundsätzlich untersagt.
Grundsatz: Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV
Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV (Amtsblatt der EU v. 10.3.2010, C83, S. 88) sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen untersagt, wenn sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.
Ein selektives Vertriebssystem, das bestimmten Händlern den Zugang zu Produkten oder Dienstleistungen verweigert und diese an bestimmte Voraussetzungen knüpft, kann daher grundsätzlich als wettbewerbsbeschränkend betrachtet werden. Insbesondere wenn durch eine solche Vereinbarung der Vertrieb über nicht autorisierte Händler oder bestimmte Absatzkanäle (z. B. Online-Handel) unterbunden wird, kann dies einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht darstellen.
Ausnahmen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV
Trotz des Verbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV gibt es jedoch Möglichkeiten, selektive Vertriebssysteme rechtmäßig zu gestalten. Art. 101 Abs. 3 AEUV erlaubt Ausnahmen, wenn die Wettbewerbsbeschränkung durch wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt ist und den Verbrauchern zugutekommt.
Voraussetzungen für eine Ausnahme nach Art. 101 Abs. 3 AEUV sind:
- Das selektive Vertriebssystem trägt zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts bei.
- Die Einschränkungen sind erforderlich, um diese Vorteile zu erreichen.
- Die Einschränkungen gehen nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieser Ziele notwendig ist.
- Ein erheblicher Teil des Wettbewerbs wird nicht ausgeschaltet.
Diese Anforderungen wurden in der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 konkretisiert, die festlegt, unter welchen Bedingungen vertikale Vereinbarungen – darunter auch selektive Vertriebssysteme – vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV befreit sind.
BGH-Rechtsprechung: Fall "Synthesizer" (BGH, Urt. v. 29.9.1988, I ZR 57/87 – Synthesizer, GRUR 1989, 110)
In diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass ein Hersteller grundsätzlich frei in der Auswahl seiner Vertragspartner ist. Er kann also entscheiden, welche Händler er beliefert und welche nicht.
Der BGH betonte jedoch, dass es über diese Auswahlfreiheit hinausgeht, wenn ein Unternehmen versucht, durch die Nummerierung von Waren auch die Abnehmer der Abnehmer zu steuern. Dies könnte eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung darstellen.
Ein Hersteller kann eine solche Kontrolle jedoch rechtlich zulässig durch ein vertragliches Vertriebsbindungssystem erreichen. Das bedeutet, dass Hersteller und Händler vertragliche Vereinbarungen treffen müssen, um den Weiterverkauf nur an autorisierte Händler zu gewährleisten.
Praktische Bedeutung für Unternehmen
Unternehmen, die ein selektives Vertriebssystem einführen möchten, sollten sich bewusst sein, dass sie dadurch potenziell wettbewerbsrechtliche Risiken eingehen. Entscheidend ist, dass die gewählten Kriterien für die Auswahl der Vertriebspartner objektiv, sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.
Besonders kritisch sind folgende Aspekte:
- Verbot des Online-Handels: Nach der Entscheidung des EuGH im Fall Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C-439/09) kann ein pauschales Verbot des Online-Vertriebs unzulässig sein.
- Preisbindung und Gebietsabschottung: Es darf nicht darauf abgezielt werden, Preiswettbewerb zwischen den Vertriebspartnern zu verhindern oder den Zugang zu bestimmten Märkten zu beschränken.
- Transparenz und Gleichbehandlung: Alle Händler müssen nach objektiven Kriterien beurteilt werden, um Missbrauch zu vermeiden.
Selektive Vertriebssysteme sind somit ein effektives Mittel, um die Markenpräsentation, den Kundenservice und die Preisstabilität zu sichern. Sie sind jedoch nur unter bestimmten Bedingungen zulässig. Die Vereinbarkeit mit Art. 101 AEUV und der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 muss sorgfältig geprüft werden, um rechtliche Risiken zu vermeiden. Die Rechtsprechung des BGH und EuGH zeigt, dass ein solches Vertriebssystem nur dann zulässig ist, wenn es auf sachlichen und nicht diskriminierenden Kriterien beruht.
Zulässige Vertriebssysteme
Kartellrechtlich zulässige Vertriebssysteme genießen nur begrenzten Schutz vor Umgehungsversuchen durch außenstehende Händler. Grundsätzlich ist es nicht wettbewerbswidrig, wenn ein nicht autorisierter Händler Waren aus einem selektiven Vertriebssystem bezieht und weiterverkauft. Dies kann in vielen Fällen als bloßes Ausnutzen eines Vertragsbruchs eines autorisierten Händlers angesehen werden, ohne dass eine unmittelbare unlautere Handlung vorliegt.
BGH, Urt. v. 1.12.1999, I ZR 130/96, III.2.a - Außenseiteranspruch II:
"Die Missachtung eines rechtlich zulässigen Vertriebsbindungssystems durch einen dem System nicht angehörenden Händler (Außenseiter) ist an sich nicht verwerflich. Wer Ware von einem autorisierten Händler zum Zwecke des Weiterverkaufs bezieht, verhält sich nicht wettbewerbswidrig. Darin kann ein weitgehend unproblematisches Ausnutzen eines Vertragsbruchs des autorisierten Händlers liegen. Dessen Verpflichtung gegenüber dem Initiator des Vertriebssystems muss den Außenseiter nichts angehen."
Abgrenzung zwischen wettbewerbswidrigem Verhalten und zulässigem Handel
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist das bloße Ausnutzen eines Vertragsbruchs nicht wettbewerbswidrig, solange keine besonderen Umstände hinzutreten, die die Unlauterkeit begründen.
BGH, Urt. v. 1.12.1999, I ZR 130/96:
Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die schuldrechtliche Bindung zwischen dem Wettbewerber und seinem Vertragspartner Dritten gegenüber im Allgemeinen keine rechtlichen Wirkungen zu entfalten vermag und dass die Annahme eines Wettbewerbsverstoßes schon bei einem Ausnutzen fremden Vertragsbruchs gewissermaßen zu einer - im Interesse der Verkehrsfähigkeit unerwünschten - Verdinglichung der schuldrechtlichen Verpflichtungen führen würde.
Ein rechtlich zulässiges selektives Vertriebssystem ist jedoch gegen bestimmte Störmaßnahmen Dritter geschützt. Unzulässig ist insbesondere:
- Verleitung eines autorisierten Vertragshändlers zum Vertragsbruch gegenüber dem Initiator des Vertriebssystems.
- Schleichbezug von vertriebssystemgebundener Ware, um die Systemregeln zu umgehen.
- Beseitigung von Markierungen (Kontrollnummern, Barcodes etc.) zur Verschleierung der Herkunft der Ware.
OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.4.2002, 20 U 15/02, 1. (= GRUR 2003, 89):
Nach der Rechtsprechung des BGH handelt ein Händler, der - sonst ausschließlich im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems vertriebene - Waren anbietet, ohne selbst zu dem Kreis der Vertragshändler zu gehören, nicht wettbewerbswidrig, wenn die Waren nur auf Grund des Vertragsbruchs eines gebundenen Händlers in seinen Besitz gelangt sein können. Der Vertrieb eines Außenseiters ist (von der Beseitigung von Kontrollnummern abgesehen) nur dann als sittenwidrig anzusehen, wenn er mittels Schleichbezugs oder Verleitung des Händlers zum Vertragsbruch vorgeht; ein bloßes Ausnutzen eines Vertragsbruchs des Händlers reicht demgegenüber nicht aus.
Zulässige selektive Vertriebssysteme genießen somit zwar einen gewissen Schutz, jedoch ist es nicht per se wettbewerbswidrig, wenn ein nicht autorisierter Händler Produkte aus einem selektiven Vertriebssystem weiterverkauft. Entscheidend ist, ob der Außenseiter aktiv an der Umgehung des Vertriebssystems mitgewirkt hat (z. B. durch Verleitung zum Vertragsbruch oder Schleichbezug). Unternehmen, die ein selektives Vertriebssystem implementieren, sollten daher geeignete Kontrollmechanismen etablieren, um Verstöße gegen die Vertriebsregeln effektiv zu unterbinden.
Schutz vor Umgehungsversuchen
Schleichbezug
Der Begriff des Schleichbezugs spielt im Wettbewerbsrecht eine zentrale Rolle, insbesondere wenn es um selektive Vertriebssysteme und Direktvertrieb geht. Unternehmen setzen unterschiedliche Vertriebskonzepte ein, um ihre Produkte an bestimmte Abnehmergruppen zu verkaufen. Dabei kann es vorkommen, dass Dritte versuchen, diese Vertriebssysteme zu umgehen, indem sie sich durch falsche Angaben Zugang zu Produkten verschaffen. Dies wirft die Frage auf, wann ein solches Verhalten wettbewerbswidrig ist und wann es rechtlich unbedenklich bleibt.
Definition: Was ist ein Schleichbezug?
Ein Schleichbezug liegt vor, wenn ein Wiederverkäufer gegenüber dem Anbieter einer Ware vortäuscht, zum Bezug berechtigt zu sein, obwohl er die vom Anbieter aufgestellten Belieferungsvoraussetzungen nicht erfüllt. Typischerweise geschieht dies, wenn ein Händler bewusst gegen die Geschäftsbedingungen des Anbieters verstößt, die eine Belieferung nur an Endkunden oder bestimmte Vertriebspartner vorsehen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat hierzu klargestellt, dass der Schleichbezug insbesondere zum Schutz selektiver Vertriebssysteme entwickelt wurde, sich aber auch auf Direktvertriebssysteme erstrecken kann (BGH, Urt. v. 11.9.2008, I ZR 74/06 – bundesligakarten.de).
Die rechtliche Bewertung des Schleichbezugs
1. Unlauterkeitstatbestand des Schleichbezugs
Nach geltendem Wettbewerbsrecht ist der Schleichbezug grundsätzlich als eine Form der gezielten Mitbewerberbehinderung gemäß § 4 Nr. 10 UWG einzuordnen. Der Unlauterkeitsvorwurf ergibt sich aus der gezielten Behinderung eines Vertriebskonzepts, das ein Unternehmen rechtmäßig zur Absatzsteuerung einsetzt.
Eine zentrale Voraussetzung für die Annahme eines unlauteren Schleichbezugs ist die Täuschung des Anbieters. Dabei ist die Frage, ob der Unternehmer den Schleichbezug erkennen konnte, für die Bewertung der Unlauterkeit nicht entscheidend (BGH, Urt. v. 30.4.2014, I ZR 224/12 – Flugvermittlung im Internet).
2. Schutz von Vertriebssystemen gegen Schleichbezug
Sowohl selektive Vertriebssysteme als auch Direktvertriebsmodelle können sich gegen Schleichbezug wehren. Wer sich in zulässiger Weise für den Direktvertrieb über eigene Verkaufsstellen oder weisungsabhängige Vertreter entscheidet, genießt den gleichen wettbewerbsrechtlichen Schutz wie ein Hersteller, der ein selektives Vertriebssystem betreibt (BGH, Urt. v. 11.9.2008, I ZR 74/06 – bundesligakarten.de, Tz. 22 f.).
3. Zulässige Störung eines unzulässigen Vertriebssystems
Ein besonderer Aspekt ist die Frage, ob die Störung eines rechtswidrigen Vertriebssystems durch Schleichbezug selbst wettbewerbsrechtlich unbedenklich sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung darf ein rechtlich unzulässiges Vertriebssystem nicht den Schutz der Rechtsordnung genießen. Würde dies zugelassen, könnte ein Unternehmen durch ein unzulässiges Vertriebskonzept indirekt Wettbewerbsvorteile erlangen (BGH, Urt. v. 11.9.2008, I ZR 74/06, Tz. 27 – bundesligakarten.de).
Grenzen der Unlauterkeit beim Schleichbezug
Ob ein Schleichbezug wettbewerbswidrig ist, hängt von den Gesamtumständen ab. Nicht jede Umgehung von Geschäftsbedingungen ist automatisch unlauter. Entscheidend ist das Vorliegen besonderer Umstände, die eine unlautere Behinderung begründen.
- Täuschung über die Wiederverkaufsabsicht: Unlauter ist insbesondere die bewusste Täuschung eines Anbieters über die eigene Verkaufsabsicht.
- Missachtung technischer Schutzmaßnahmen: Wer gezielt technische Schutzvorkehrungen überwindet, um an Waren zu gelangen, verstößt eher gegen das Wettbewerbsrecht.
- Verstoß gegen kartellrechtliche Vorgaben: Wird ein Vertriebssystem unter Umgehung kartellrechtlicher Vorgaben durch einen Schleichbezug gestört, kann dies ausnahmsweise zulässig sein.
Der Schleichbezug ist ein vielschichtiger wettbewerbsrechtlicher Tatbestand. Grundsätzlich dient er dem Schutz von Vertriebssystemen vor gezielter Behinderung durch Mitbewerber. Entscheidend für die Bewertung ist, ob der Bezug durch Täuschung erfolgt und ob ein legitimes Vertriebskonzept beeinträchtigt wird. In Ausnahmefällen kann die Störung eines unzulässigen Vertriebssystems durch Schleichbezug gerechtfertigt sein. Unternehmen sollten daher ihre Vertriebskonzepte wettbewerbsrechtlich absichern und auf eine klare Vertragsgestaltung achten, um unlautere Wettbewerbspraktiken zu vermeiden.
Verleiten zum Vertragsbruch
Das Verleiten zum Vertragsbruch ist eine weiter Fragestellung im Wettbewerbsrecht und betrifft insbesondere den Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen durch gebundene Händler. Unternehmen setzen selektive Vertriebssysteme ein, um den Verkauf ihrer Produkte zu steuern. Dabei stellt sich die Frage, wann das bewusste Verleiten eines autorisierten Händlers zu Vertragsverstößen als wettbewerbswidrig anzusehen ist und wann es rechtlich zulässig bleibt.
Definition: Was bedeutet Verleiten zum Vertragsbruch?
Unter dem Verleiten zum Vertragsbruch versteht man die bewusste Einflussnahme auf eine Vertragspartei, sodass diese ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber einer anderen Partei verletzt. Im Vertriebskontext bedeutet dies beispielsweise, dass ein Dritter einen autorisierten Händler dazu bringt, entgegen vertraglicher Vorgaben Waren weiterzuverkaufen.
Relevanz erlangt dieses Verhalten insbesondere bei selektiven Vertriebssystemen, die den Weiterverkauf bestimmter Produkte nur durch autorisierte Partner erlauben. Eine gezielte Einflussnahme auf solche Händler kann unter Umständen wettbewerbswidrig sein.
Wettbewerbsrechtliche Beurteilung des Verleitens zum Vertragsbruch
1. Das Verleiten zum Vertragsbruch bei rechtlich zulässigen Vertriebssystemen
Die Störung eines rechtlich zulässigen Vertriebssystems durch das Verleiten eines autorisierten Händlers zum Vertragsbruch wird grundsätzlich als wettbewerbswidrig angesehen. Der BGH hat hierzu klargestellt, dass der Schutz solcher Systeme nur dann entfällt, wenn es sich um rechtlich unzulässige Vertriebskonzepte handelt (BGH, Urt. v. 11.9.2008, I ZR 74/06 – bundesligakarten.de).
Nach dem Urteil des OLG Düsseldorf (Urt. v. 30.4.2002, 20 U 15/02, 2.b, GRUR 2003, 89) genügt es allerdings nicht, dass ein Außenseiter lediglich anfragt, ob ein autorisierter Vertragshändler bereit ist, Ware an Dritte zu liefern. Erst wenn gezielt auf einen Vertragsbruch hingewirkt wird, kann von einem unlauteren Verhalten ausgegangen werden.
2. Das Verleiten zum Vertragsbruch bei unzulässigen Vertriebssystemen
Anders gestaltet sich die Rechtslage, wenn das betroffene Vertriebssystem rechtlich unzulässig ist. In einem solchen Fall genießt das Vertriebssystem keinen wettbewerbsrechtlichen Schutz, sodass auch eine gezielte Störung durch das Verleiten zum Vertragsbruch nicht als wettbewerbswidrig eingestuft wird.
Beispiel:
- Ein Hersteller untersagt seinen autorisierten Händlern im Vertriebsvertrag jeglichen Online-Vertrieb, obwohl dies gegen geltendes Kartellrecht verstößt. Wird ein Dritter aktiv, um einen Händler zum Vertragsbruch zu bewegen, könnte dies zulässig sein, da das ursprüngliche Vertriebssystem selbst rechtswidrig ist.
Ein zentraler Aspekt ist dabei die Frage, ob die Bindungsklausel im Vertrag zwischen Händler und Hersteller rechtlich haltbar ist. Falls nicht, kann der autorisierte Händler durch den Vertragsverstoß keine rechtlich relevante Pflichtverletzung begehen, und das Verleiten dazu wäre unbedenklich.
Das Verleiten zum Vertragsbruch ist somit ein heikles Thema im Wettbewerbsrecht und hängt stark von den Rahmenbedingungen des Vertriebssystems ab. Während das gezielte Stören eines rechtlich zulässigen Vertriebssystems als unlauter gilt, ist das Verleiten zum Vertragsbruch bei rechtswidrigen Vertriebssystemen unbedenklich. Unternehmen sollten daher ihre Vertriebssysteme und Vertragsklauseln sorgfältig prüfen, um rechtliche Fallstricke zu vermeiden.
Kontrollnummernentfernung
Die Kontrollnummernentfernung spielt immer wieder eine entscheidende Rolle im Bereich selektiver Vertriebssysteme. Unternehmen setzen Warencodierungen ein, um den Vertriebsweg ihrer Produkte zu überwachen und sicherzustellen, dass ihre Waren ausschließlich über autorisierte Kanäle verkauft werden. Außenseiter, die systemgebundene Waren anbieten, haben jedoch ein Interesse daran, diese Kontrollnummern zu entfernen, um den eigentlichen Vertriebsweg zu verschleiern. Dies wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen die Entfernung solcher Nummern wettbewerbsrechtlich zulässig oder unzulässig ist.
Bedeutung der Kontrollnummernentfernung
Die Entfernung von Kontrollnummern betrifft in erster Linie selektive Vertriebssysteme, bei denen Hersteller festlegen, dass ihre Produkte nur von autorisierten Händlern verkauft werden dürfen. Ziel ist es, die Einhaltung der Vertriebsbindung sicherzustellen und Grauimporte oder ungewollte Parallelverkäufe zu verhindern.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist die Kontrollnummernentfernung bei rechtlich zulässigen selektiven Vertriebssystemen unzulässig, wenn das Vertriebssystem diskriminierungsfrei und gedanklich lückenlos betrieben wird (BGH, Urt. v. 15.7.1999, I ZR 14/97 – Entfernung der Herstellungsnummer I).
Voraussetzungen für den Schutz eines Kontrollnummernsystems
1. Theoretische (gedankliche) Lückenlosigkeit
Damit ein Vertriebssystem gegen die Entfernung von Kontrollnummern geschützt werden kann, muss es gedanklich lückenlos sein. Dies bedeutet, dass der Hersteller innerhalb eines Wirtschaftsraums ein einheitliches Vertriebssystem etabliert haben muss, in dem alle autorisierten Händler denselben vertraglichen Verpflichtungen unterliegen. Eine Spaltung des Vertriebs in gebundene Händler auf der einen und ungebundene Händler auf der anderen Seite führt dazu, dass das Kontrollnummernsystem nicht schutzwürdig ist (BGH, Urt. v. 5.10.2000, I ZR 1/98 – Kontrollnummernbeseitigung II).
Beispiel:
- Ein Hersteller beliefert ausschließlich gebundene Händler in der EU und stellt sicher, dass kein ungebundener Händler innerhalb dieses Wirtschaftsraums legal an die Ware gelangt. In diesem Fall wäre das System gedanklich lückenlos.
- Falls der Hersteller jedoch in einigen Mitgliedstaaten selektive Vertriebsbindungen vorsieht, während in anderen Staaten ungebundene Händler ohne Einschränkungen beliefert werden, ist das System nicht mehr gedanklich lückenlos. Der Schutz gegen die Entfernung von Kontrollnummern entfällt.
2. Praktische Lückenlosigkeit – Keine Voraussetzung mehr
Früher wurde die praktische Lückenlosigkeit als Voraussetzung für den Schutz eines Kontrollnummernsystems angesehen. Das bedeutete, dass Hersteller aktiv gegen jede Verletzung ihrer Vertriebsbindungen vorgehen mussten, um den Schutz ihres Systems zu wahren. Diese Anforderung hat der BGH jedoch aufgegeben (BGH, Urt. v. 1.12.1999, I ZR 130/96 – Außenseiteranspruch II).
Wichtige Klarstellung: Die faktische Existenz von Lücken im Vertriebssystem – z. B. durch unkontrollierte Parallelimporte oder Graumarktprodukte – führt nicht automatisch dazu, dass der Hersteller seine Kontrollmechanismen verliert. Der Schutz durch das Wettbewerbsrecht bleibt bestehen, solange das System konzeptionell als lückenlos gilt.
Wettbewerbsrechtliche Bewertung der Kontrollnummernentfernung
Die Entfernung von Kontrollnummern stellt eine gezielte Behinderung des Vertriebssystems dar, wenn dieses rechtlich zulässig ist. Nach der BGH-Rechtsprechung kann der Hersteller die Entfernung der Nummern als wettbewerbswidrige Behinderung untersagen lassen, sofern sein Vertriebssystem nicht gegen kartellrechtliche Vorschriften verstößt.
Jedoch gilt:
- Falls das Vertriebssystem selbst unzulässig ist, z. B. weil es gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstößt, kann der Schutz der Kontrollnummern nicht in Anspruch genommen werden.
- Ist das Vertriebssystem gespalten, sodass einige Händler an strikte Vertragsbedingungen gebunden sind, während andere frei verkaufen dürfen, entfällt ebenfalls der Schutz der Kontrollnummern.
Die Kontrollnummernentfernung ist daher ein wettbewerbsrechtlich relevantes Thema, das insbesondere für selektive Vertriebssysteme von Bedeutung ist. Der Schutz vor der Entfernung von Kontrollnummern setzt voraus, dass das Vertriebssystem gedanklich lückenlos ist, während eine praktische Lückenlosigkeit nicht mehr erforderlich ist. Unternehmen sollten daher sicherstellen, dass ihre selektiven Vertriebssysteme rechtlich zulässig und nicht gespalten sind, um den Schutz ihrer Warencodierungen zu gewährleisten.
Irreführung über Entfernung einer Warencodierung
Die Entfernung von Warencodierungen, insbesondere von Kontrollnummern, ist eine gängige Praxis im Parallelhandel, um die Herkunft oder den Vertriebsweg einer Ware zu verschleiern. Dabei stellt sich die Frage, ob das Verschweigen einer solchen Entfernung eine wettbewerbsrechtlich relevante Irreführung darstellt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat hierzu klargestellt, dass eine Irreführung nur dann gegeben ist, wenn eine Aufklärungspflicht besteht – was in der Regel nicht der Fall ist (BGH, Urt. v. 15.7.1999, I ZR 204/96 – Kontrollnummernbeseitigung I).
Aufklärungspflicht und Irreführung
1. Besteht eine generelle Pflicht zur Aufklärung über die Entfernung von Warencodierungen?
Grundsätzlich führt das bloße Verschweigen der Entfernung einer Warencodierung nicht automatisch zu einer wettbewerbsrechtlich relevanten Irreführung. Eine Aufklärungspflicht besteht nur dann, wenn die Veränderung für den Kaufentschluss eines hinreichend großen Teils der Verbraucher von wesentlicher Bedeutung ist. Nach der Rechtsprechung des BGH ist dies in den meisten Fällen jedoch nicht gegeben.
- Fehlt eine sichtbare Veränderung an der Verpackung, sodass ein hinreichend großer Teil der Verbraucher keine Beeinträchtigung wahrnimmt, besteht keine Pflicht zur Aufklärung.
- Für Endverbraucher, die Parfum oder Kosmetikprodukte für den Eigengebrauch kaufen, ist die Verpackung meist von untergeordneter Bedeutung. Solange Manipulationen geschickt verdeckt sind, wird keine relevante Täuschung angenommen.
- Verbraucher, die die Ware verschenken möchten, könnten einen höheren Anspruch an eine unversehrte Verpackung haben. Allerdings ist bekannt, dass Parallelhändler zur Verschleierung ihrer Bezugsquellen Kontrollnummern entfernen. Diese Verbrauchergruppe geht daher oft bereits davon aus, dass Verpackungen manipuliert sein könnten.
2. Relevanz für bestimmte Verbrauchergruppen
Verbleibende Verbraucher, die großen Wert auf eine einwandfreie Verpackung legen, können sich unter Umständen getäuscht fühlen. Jedoch stellt der BGH klar, dass selbst bei geschickt kaschierten Veränderungen eine ausdrückliche Aufklärung gegenüber dieser kleinen Verbrauchergruppe nicht wettbewerbsrechtlich geboten ist.
Wettbewerbsrechtliche Bewertung
- Keine allgemeine Irreführung: Da nur ein kleiner Teil der Verbraucher möglicherweise eine Beeinträchtigung der Verpackung als erheblich ansieht, reicht dies nicht aus, um eine wettbewerbsrechtliche Irreführung zu begründen.
- Erwartungshaltung der Verbraucher: Kunden, die bei Parallelhändlern einkaufen, sind sich bewusst, dass dort Produkte oft einer Umverpackung oder Manipulation unterliegen. Eine Täuschung liegt daher nicht ohne Weiteres vor.
- Interessenabwägung: Das Interesse des Händlers, keine übermäßigen Offenlegungspflichten zu haben, wird als schützenswert angesehen.
Das Verschweigen der Entfernung einer Warencodierung stellt nur dann eine wettbewerbsrechtlich relevante Irreführung dar, wenn eine Pflicht zur Aufklärung besteht. Diese ist jedoch nur in Ausnahmefällen gegeben, etwa wenn die Veränderung der Verpackung für einen erheblichen Teil der Verbraucher wesentlich wäre. Da die meisten Käufer im Parallelhandel wissen, dass Manipulationen an Verpackungen üblich sind, fehlt es in der Regel an einer relevanten Täuschung. Händler müssen daher nur dann über die Entfernung einer Warencodierung aufklären, wenn dies den Kaufentschluss maßgeblich beeinflussen könnte – was nach der BGH-Rechtsprechung nur in seltenen Fällen der Fall ist.
Rechtsansprüche bei der Entfernung von Warencodierungen
Einleitung
Die Entfernung von Warencodierungen, insbesondere von Herstellernummern, kann wettbewerbsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Betroffene Unternehmen haben verschiedene Rechtsansprüche, um sich gegen diese Praxis zu wehren. Dazu zählen insbesondere der Auskunftsanspruch über die Bezugsquelle, ein Vernichtungsanspruch sowie mögliche Schadensersatzansprüche. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat hierzu mehrfach Stellung genommen und die rechtlichen Voraussetzungen für diese Ansprüche konkretisiert.
1. Auskunftsanspruch über die Bezugsquelle
Ein Anspruch auf Auskunft über die Bezugsquellen kann sich aus § 4 Nr. 10 UWG i.V.m. § 242 BGB ergeben. Dieser Anspruch dient nicht nur der Ahndung eines bereits begangenen Wettbewerbsverstoßes, sondern auch der Verhinderung künftiger Verstöße.
2. Vernichtungsanspruch
Ein Vernichtungsanspruch kommt nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht. Er ist ein Unterfall des Beseitigungsanspruchs und setzt voraus, dass eine mildere Beseitigungsmöglichkeit nicht ausreicht.
Relevante Rechtsprechung:
- BGH, Urt. v. 21.2.2002, I ZR 140/99, II.1.a.dd – Entfernung der Herstellungsnummer III: „Ein Vernichtungsanspruch ist nur unter strengeren Voraussetzungen zu bejahen als im Markenrecht; er setzt – als ein Unterfall des Beseitigungsanspruchs – voraus, dass die von den Gegenständen ausgehende Gefahr weiterer Rechtsverletzungen nicht auf andere – mildere – Weise beseitigt werden kann.“
3. Schadensersatzanspruch
Ein Schadensersatzanspruch besteht nicht automatisch bei jeder Entfernung einer Warencodierung. Vielmehr muss der geschädigte Kläger konkret nachweisen, dass ihm durch das wettbewerbswidrige Verhalten ein Schaden entstanden ist.
Relevante Rechtsprechung:
- BGH, Urt. v. 21.2.2002, I ZR 140/99, II.4 – Entfernung der Herstellungsnummer III: „Allein der Umstand des Vertriebs von Produkten mit manipulierten Herstellungsnummern begründet keinen Schadensersatzanspruch, wenn nicht der Gläubiger im Einzelnen dargelegt hat, dass ihm auf Grund des wettbewerbswidrigen Verhaltens ein Schaden entstanden ist.“
- BGH, Urt. v. 17.5.2001, I ZR 291/98, II.2 – Entfernung der Herstellernummer II: „Der Auskunftsanspruch kann sich auf Umstände erstrecken, die der Berechtigte benötigt, um die Verlässlichkeit der Auskunft überprüfen zu können. Dies kann im Einzelfall ausnahmsweise auch einen Anspruch auf Belegvorlage rechtfertigen.“
Die Entfernung von Warencodierungen kann daher erhebliche rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Betroffene Unternehmen können sich mit verschiedenen Rechtsmitteln zur Wehr setzen:
- Auskunftsanspruch über die Bezugsquelle, um künftige Wettbewerbsverstöße zu verhindern.
- Vernichtungsanspruch, falls eine mildere Beseitigungsmöglichkeit nicht ausreicht.
- Schadensersatzanspruch, sofern ein konkreter Schaden nachgewiesen werden kann.
Die BGH-Rechtsprechung legt dabei strenge Maßstäbe an und stellt klar, dass eine pauschale Haftung nicht besteht. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.
Zulässigkeit von Drittplattformverboten im selektiven Vertriebssystem
1. Einführung
Das selektive Vertriebssystem ist eine beliebte Strategie vieler Markenhersteller, um den Vertrieb ihrer Produkte zu steuern. Durch die Auswahl autorisierter Händler sollen Qualität, Service und das Markenimage gewahrt bleiben. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Herstellern das Recht zusteht, ihren Vertriebspartnern den Verkauf über Drittplattformen wie Amazon oder eBay zu untersagen.
Dieses Thema ist besonders brisant, da es im Spannungsfeld zwischen Vertragsfreiheit der Hersteller, dem Schutz des Markenimages und den Interessen der Händler sowie dem Wettbewerbsrecht steht. Besonders wichtig sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), des Bundesgerichtshofs (BGH) und nationaler Kartellbehörden.
2. Selektive Vertriebssysteme und Drittplattformverbote
Selektive Vertriebssysteme sind nach Artikel 101 AEUV grundsätzlich zulässig, sofern sie objektive und qualitative Kriterien aufstellen, die diskriminierungsfrei angewendet werden. Hersteller dürfen in diesen Systemen ihre Vertriebspartner nach bestimmten Qualitätskriterien auswählen und Regeln für den Verkauf aufstellen – einschließlich der Frage, ob der Verkauf über Drittplattformen erlaubt oder verboten ist.
Drittplattformverbote sind dabei ein besonders kontroverses Mittel, das in verschiedenen Verfahren Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war. Die wichtigsten Argumente für und gegen Drittplattformverbote sind:
Argumente für Drittplattformverbote:
- Schutz der Markenexklusivität und -wahrnehmung: Hochwertige oder exklusive Markenprodukte könnten auf Plattformen wie Amazon oder eBay unter ungünstigen Bedingungen präsentiert werden.
- Sicherstellung von Beratung und Service: Hersteller können durch Drittplattformverbote sicherstellen, dass der Kunde eine qualifizierte Beratung und einen angemessenen Service erhält.
- Vermeidung von Preisverfall durch graue Märkte: Drittplattformen ermöglichen es häufig, dass Händler Waren in grauen Märkten weiterverkaufen, was zu einer Erosion der Markenpreisstrategie führen kann.
Argumente gegen Drittplattformverbote:
- Wettbewerbsbeschränkung für kleinere Händler: Kleine und mittelständische Händler sind oft auf Drittplattformen angewiesen, um sich gegen größere Marktteilnehmer zu behaupten.
- Einschränkung des Online-Handels: Ein generelles Verbot der Drittplattformnutzung kann den freien Handel im Internet behindern.
- Eingriff in die Preissetzung: Kritiker argumentieren, dass Drittplattformverbote häufig primär darauf abzielen, Preiswettbewerb zu unterbinden und Herstellerpreise zu stabilisieren.
3. Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Drittplattformverboten
Die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Drittplattformverboten war lange uneinheitlich. Während das Bundeskartellamt (BKartA) in Deutschland eine restriktive Haltung einnahm, gab es auf europäischer Ebene unterschiedliche Entscheidungen. Hier sind die wichtigsten Urteile:
3.1. EuGH-Urteil „Coty Germany“ (2017)
- Urteil: EuGH, 6. Dezember 2017, Az. C-230/16
- Kernaussage: Drittplattformverbote können in selektiven Vertriebssystemen zulässig sein, wenn sie dem Schutz des Luxusimages einer Marke dienen.
- Sachverhalt: Das Unternehmen Coty Germany verbot seinen Vertriebspartnern den Verkauf über Drittplattformen, um das Luxusimage seiner Kosmetikprodukte zu bewahren.
- Entscheidung des EuGH:
- Drittplattformverbote sind nicht per se wettbewerbswidrig, wenn sie dazu dienen, das Markenimage zu schützen.
- Solche Verbote sind zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind und nicht über das notwendige Maß hinausgehen.
- Wichtige Einschränkung: Das Urteil bezieht sich auf Luxuswaren – ob diese Argumentation auch für andere Produktkategorien gilt, bleibt umstritten.
Dieses Urteil war ein wichtiger Wendepunkt in der Debatte um Drittplattformverbote. Es bestätigte, dass selektive Vertriebssysteme nicht durch ein generelles Kartellverbot ausgehebelt werden, solange sie sachlich gerechtfertigt sind.
3.2. OLG Frankfurt – „Deuter“-Entscheidung (2015)
- Urteil: OLG Frankfurt am Main, 22. Dezember 2015, Az. 11 U 84/14 (Kart)
- Kernaussage: Ein generelles Drittplattformverbot kann zulässig sein, wenn es dem Schutz der Vertriebsqualität dient.
- Sachverhalt: Der Rucksackhersteller Deuter untersagte seinen Händlern den Verkauf über Amazon und eBay mit der Begründung, dass dort die Markenpräsentation und Beratung nicht sichergestellt werden könnten.
- Entscheidung des OLG Frankfurt:
- Das Verbot wurde für zulässig erklärt, da es auf Qualitätssicherung und nicht auf Preisbindung abzielte.
- Ein generelles Verbot von Preissuchmaschinen wurde hingegen als unzulässig angesehen, da es nicht erforderlich sei, um die Qualität des Vertriebs zu schützen.
3.3. ASICS-Entscheidung des Bundeskartellamts (2015)
- Urteil: BKartA, 26. August 2015
- Kernaussage: Ein pauschales Drittplattformverbot kann unzulässig sein, wenn es den Wettbewerb unverhältnismäßig beschränkt.
- Sachverhalt: Die Sportmarke ASICS untersagte ihren Händlern den Vertrieb über Drittplattformen.
- Entscheidung des Bundeskartellamts:
- ASICS‘ Drittplattformverbot sei nicht durch qualitative Anforderungen begründet, sondern diene primär der Preiskontrolle.
- Händler sollten in ihrer Wahl der Vertriebswege nicht unangemessen eingeschränkt werden.
Die ASICS-Entscheidung zeigte, dass Drittplattformverbote nur dann Bestand haben, wenn sie aus objektiven und sachlichen Gründen erlassen werden – nicht aber zur Kontrolle der Preisgestaltung.
4. Fazit und Praxisempfehlungen
Die Zulässigkeit von Drittplattformverboten hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- Welche Produkte werden verkauft?
- Luxus- und Premiumprodukte genießen in der Regel stärkeren Schutz (vgl. Coty-Urteil).
- Sind die Verbote objektiv gerechtfertigt?
- Markenschutz, Qualitätssicherung und Vermeidung von Graumärkten sind legitime Gründe.
- Verhinderung von Preiswettbewerb ist kein zulässiges Argument! (vgl. ASICS-Entscheidung).
- Sind die Verbote verhältnismäßig?
- Ein generelles Drittplattformverbot ist oft problematisch.
- Eine Beschränkung auf bestimmte Plattformen (z. B. eBay, aber nicht Amazon) kann möglich sein.
Empfehlung für Unternehmen:
- Hersteller sollten ihre Vertriebssysteme kartellrechtlich prüfen lassen, insbesondere im Hinblick auf die neuen Vertikal-GVO-Regelungen (2022).
- Klare vertragliche Vorgaben für Vertriebspartner sind essenziell.
- Eine dokumentierte Begründung für Drittplattformverbote kann im Streitfall entscheidend sein.
Verbotene und zulässige vertriebsbezogene Vorgaben
Vertriebsbezogene Vorgaben sind nur in einem beschränkten Umfang zulässig. Die folgenden Listen geben einen Überblick über die wichtigsten verbotenen und zulässigen vertriebsbezogenen Vorgaben unter Berücksichtigung der aktuellen kartellrechtlichen Vorgaben und der Vertikal-GVO.
Verbotene vertriebsbezogene Vorgaben
Diese Vorgaben sind wettbewerbswidrig und verstoßen gegen das Kartellrecht:
- Exklusive Vertriebsgebiete mit passiven Vertriebsverboten
- Es ist unzulässig, einem Händler ein exklusives Vertriebsgebiet zuzuweisen, wenn ihm gleichzeitig untersagt wird, Kunden aus anderen Regionen zu beliefern (sog. passives Vertriebsverbot).
- Problematisch ist dies insbesondere, wenn der Marktanteil des Händlers über 30 % liegt.
- Generelles Verbot des Online- oder stationären Vertriebs
- Hersteller dürfen ihren Vertragshändlern den Online-Handel nicht generell untersagen.
- Ebenso unzulässig ist ein allgemeines Verbot des stationären Vertriebs.
- Verbot der Nutzung des Markennamens in Suchmaschinenwerbung
- Ein Händler darf nicht daran gehindert werden, den Markennamen des Herstellers für Google Ads oder andere Suchmaschinenwerbung zu nutzen.
- Verbot von Preisrabatten im stationären Handel
- Hersteller dürfen nicht einseitig Preisrabatte oder Sonderangebote im stationären Handel verbieten, wenn dies zu einer Benachteiligung gegenüber dem Online-Handel führt.
- Verbot von Cross Selling (Querverkäufen) zwischen autorisierten Groß- und Einzelhändlern
- Autorisierte Händler dürfen sich gegenseitig Waren verkaufen. Ein generelles Cross-Selling-Verbot ist kartellrechtlich unzulässig.
- Vorgabe fixer oder minimaler Weiterverkaufspreise
- Hersteller dürfen Händlern keine festen oder minimalen Weiterverkaufspreise vorschreiben. Lediglich unverbindliche Preisempfehlungen (UVP) sind zulässig.
- Verbot des Multi-Channel-Vertriebs
- Händler dürfen nicht gezwungen werden, sich ausschließlich auf einen Vertriebskanal (z. B. nur Online- oder nur stationärer Handel) zu beschränken.
- Verpflichtung zur exklusiven Nutzung eines Online-Marktplatzes
- Hersteller dürfen Händlern nicht vorschreiben, ausschließlich über eine bestimmte Plattform (z. B. nur über den eigenen Onlineshop oder nur über Amazon) zu verkaufen.
- Verbot der internationalen Belieferung von Kunden innerhalb der EU („Geoblocking“)
- Händler dürfen nicht daran gehindert werden, innerhalb der EU Kunden in anderen Ländern zu beliefern oder zu bewerben.
- Beschränkungen der Cross-Border-Werbung
- Werbebeschränkungen, die verhindern, dass Händler gezielt internationale Kunden (z. B. durch Online-Werbung) ansprechen, sind nicht zulässig.
Zulässige vertriebsbezogene Vorgaben
Diese Vorgaben sind unter bestimmten Bedingungen kartellrechtlich erlaubt:
- Gestaltung des Vertriebskonzepts und der Warenpräsentation
- Hersteller können Mindeststandards für die Präsentation der Produkte sowohl online als auch offline festlegen.
- Dazu zählen Vorgaben zu Ladeneinrichtung, Beratungsqualität und Webshop-Gestaltung.
- Exklusivvertriebsrechte für den Aktivvertrieb (bei Marktanteil unter 30 %)
- Hersteller können bestimmte Händler mit Exklusivrechten für den aktiven Vertrieb in einem Gebiet ausstatten, solange dies nur den aktiven Vertrieb betrifft und der Marktanteil des Händlers unter 30 % liegt.
- Beschränkung des Onlinevertriebs auf bestimmte Plattformen
- Hersteller dürfen festlegen, dass ihre Produkte nur über bestimmte Online-Plattformen vertrieben werden dürfen (z. B. Verbot des Vertriebs über Amazon, eBay oder Alibaba).
- Voraussetzung: Die Einschränkung dient dem Schutz der Markenpräsentation und der Qualitätssicherung.
- Vorgaben zur Nutzung von Drittplattformen
- Hersteller können verlangen, dass der Händler keine Drittplattform nutzt, bei der das Markenerscheinungsbild nicht gewahrt bleibt (vgl. EuGH-Urteil „Coty Germany“).
- Mindestanforderungen an die Beratung und den Kundenservice
- Hersteller dürfen vorschreiben, dass Händler eine Mindestberatung anbieten oder bestimmte Schulungen zu den Produkten absolvieren müssen.
- Selektive Vertriebssysteme für Marken- und Premiumprodukte
- Hersteller dürfen sich für ein selektives Vertriebssystem entscheiden, in dem nur autorisierte Händler mit bestimmten Qualitätsstandards zugelassen sind.
- Werbebeschränkungen, sofern sachlich gerechtfertigt
- Hersteller können bestimmten Händlern Vorgaben zur Werbung machen, z. B. bezüglich Werbekanälen, Rabattaktionen oder Markenlogos – solange dies keine übermäßige Wettbewerbsbeschränkung darstellt.
- Verbote des Verkaufs an nicht-autorisierte Händler
- Hersteller dürfen in selektiven Vertriebssystemen den Weiterverkauf an nicht-autorisierte Händler untersagen.
- Vorgaben zur Lagerhaltung und zum Lieferprozess
- Händler dürfen verpflichtet werden, bestimmte Lagerkapazitäten vorzuhalten oder Lieferzeiten einzuhalten.
- Beschränkung von Marktplatz-Präsentationen mit Fremdmarken
- Hersteller dürfen verhindern, dass ihre Produkte auf Marktplätzen gemeinsam mit Konkurrenzprodukten präsentiert werden, wenn dies das Markenimage schädigen könnte.
Fazit: Klare Abgrenzung erforderlich
Während Hersteller berechtigt sind, die Qualität und das Erscheinungsbild ihrer Marke durch bestimmte Vertriebsregeln zu schützen, dürfen sie nicht den Wettbewerb unverhältnismäßig einschränken.
- Verbotene Vorgaben sind in der Regel solche, die den fairen Wettbewerb zwischen Händlern behindern oder zu Marktabschottungen führen.
- Zulässige Vorgaben hingegen betreffen qualitative Kriterien für den Vertrieb und den Schutz der Markenpräsentation.
Hersteller und Händler sollten daher ihre Vertriebsverträge regelmäßig auf kartellrechtliche Risiken prüfen und sicherstellen, dass Drittplattformverbote, Exklusivverträge und Online-Regulierungen den aktuellen rechtlichen Anforderungen entsprechen.
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