Qualitativ selektive Vertriebssysteme: Ein Leitfaden für Hersteller und Händler

Stellen Sie sich vor, Sie sind Hersteller einer exklusiven Luxusmarke – vielleicht von hochwertigen Uhren, edlen Parfums oder innovativen High-End-Soundsystemen. Ihre Produkte stehen für höchste Qualität, Design und Prestige. Doch was passiert, wenn diese Produkte plötzlich auf billigen Online-Marktplätzen oder in Discountern verkauft werden?
Das Markenimage leidet, Kunden bekommen keine angemessene Beratung und der exklusive Charakter Ihrer Marke geht verloren. Genau aus diesem Grund setzen viele Hersteller auf ein qualitativ selektives Vertriebssystem. Dieses Modell erlaubt es ihnen, genau zu bestimmen, wer ihre Produkte verkauft und unter welchen Bedingungen.
Doch die Einführung eines solchen Vertriebssystems ist rechtlich nicht unproblematisch. Dürfen Hersteller einfach bestimmte Händler ausschließen? Ist ein Verbot von Online-Marktplätzen wie Amazon oder eBay zulässig? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen müssen Unternehmen beachten, damit ihr selektives Vertriebssystem nicht gegen das Kartellrecht verstößt?
In diesem Beitrag erfahren Sie:
- Was ein qualitativ selektives Vertriebssystem ist und wie es sich von anderen Vertriebsmodellen unterscheidet.
- Welche kartellrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen.
- Welche wichtigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und der deutschen Gerichte zur Zulässigkeit solcher Systeme existieren.
- Wie Unternehmen selektive Vertriebssysteme rechtssicher gestalten können, um Bußgelder oder Abmahnungen zu vermeiden.
Ob als Hersteller oder Händler – dieser Beitrag gibt Ihnen einen fundierten Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und zeigt Ihnen, worauf es in der Praxis ankommt.
Was sind qualitativ selektive Vertriebssysteme?
Ein qualitativ selektives Vertriebssystem ist ein Vertriebsmodell, bei dem Hersteller nur autorisierte Händler in ihr Vertriebssystem aufnehmen, sofern diese bestimmte qualitative Anforderungen erfüllen.
Diese qualitativen Anforderungen können sich unter anderem auf folgende Aspekte beziehen:
- Ausstattung und Präsentation des Geschäfts
- Beratungs- und Servicequalität des Händlers
- Technische Schulung des Verkaufspersonals
- Sicherstellung eines bestimmten Markenimages
- Gewährleistung einer hochwertigen Kundenbetreuung
Das Ziel eines solchen Vertriebssystems ist es, eine gleichbleibend hohe Qualität im Verkauf sicherzustellen und das Image der Marke zu schützen. Es wird insbesondere bei hochwertigen Produkten und Luxusartikeln eingesetzt, aber auch im Bereich Technologie, Kosmetik oder Sportartikel genutzt.
Abgrenzung zu anderen Vertriebssystemen
- Exklusiver Vertrieb: Hier erhält ein Händler oder eine Händlergruppe exklusive Vertriebsrechte für eine bestimmte Region oder ein bestimmtes Kundensegment.
- Freier Vertrieb: Hier kann jeder Händler die Produkte verkaufen, ohne bestimmte Vorgaben oder Einschränkungen durch den Hersteller.
- Quantitativ selektiver Vertrieb: Hier wird die Anzahl der Händler numerisch begrenzt, unabhängig von qualitativen Kriterien.
Anwendungsbereiche in der Praxis
Qualitativ selektive Vertriebssysteme werden häufig in Branchen eingesetzt, in denen das Markenimage und die Produktpräsentation eine entscheidende Rolle spielen. Beispiele sind:
- Luxusgüter (z. B. Rolex, Chanel, Cartier)
- High-End-Elektronik (z. B. Bang & Olufsen, Sonos, Bose)
- Kosmetik & Parfüm (z. B. Dior, Guerlain, La Mer)
- Sportartikel (z. B. Adidas bei bestimmten Premium-Produkten)
- Designermode (z. B. Louis Vuitton, Gucci)
Diese Systeme stellen sicher, dass die Produkte nicht in ungeeigneten oder minderwertigen Umfeldern verkauft werden, was die Wahrnehmung der Marke negativ beeinflussen könnte.
Wichtige Kriterien für die Zulässigkeit
Die Zulässigkeit qualitativ selektiver Vertriebssysteme ist kartellrechtlich nicht uneingeschränkt gegeben. Es gelten die sogenannten Metro-Kriterien, die aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache Metro SB-Großmärkte gegen Kommission (Rs. 26/76, 1977) stammen.
Diese Kriterien besagen, dass ein qualitativ selektives Vertriebssystem zulässig ist, wenn:
- Das Produkt besondere Anforderungen an den Vertrieb stellt.
- Die Auswahl der Händler anhand objektiver, qualitativer Kriterien erfolgt.
- Die Kriterien diskriminierungsfrei auf alle potenziellen Vertriebspartner angewendet werden.
- Die Anforderungen nicht über das erforderliche Maß hinausgehen.
Diese Punkte wurden vom EuGH auch in der Rechtssache „Coty Germany“ (Rs. C-230/16, 2017) bestätigt. In diesem Fall ging es um die Frage, ob ein Luxusparfumhersteller seinen autorisierten Händlern verbieten kann, seine Produkte über Drittplattformen wie Amazon zu verkaufen. Der EuGH entschied, dass ein solches Verbot zulässig sein kann, wenn es dazu dient, das Luxusimage zu wahren.
Ein qualitativ selektives Vertriebssystem erlaubt es Herstellern, ihre Produkte nur über qualifizierte Händler zu vertreiben, um Markenimage, Servicequalität und Kundenerlebnis zu sichern. Kartellrechtlich sind solche Systeme zulässig, wenn sie objektive, verhältnismäßige und diskriminierungsfreie Kriterien anwenden. Die Rechtsprechung zeigt jedoch, dass jedes System im Einzelfall auf seine Wettbewerbskonformität geprüft werden muss.
Kartellrechtliche Zulässigkeit qualitativ selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO
1. Einführung: Relevanz der Vertikal-GVO für Vertriebssysteme
Die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO, VO (EU) 2022/720) regelt, unter welchen Bedingungen vertikale Vereinbarungen – also Verträge zwischen Unternehmen auf unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen (z. B. Hersteller und Händler) – vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sind.
Da qualitativ selektive Vertriebssysteme eine Beschränkung des Händlerkreises beinhalten, unterliegen sie grundsätzlich dem Kartellrecht. Die Vertikal-GVO legt jedoch fest, unter welchen Voraussetzungen sie zulässig sind und von der Kartellverbotsregelung freigestellt werden können.
2. Zulässigkeit qualitativ selektiver Vertriebssysteme nach Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO
Die Vertikal-GVO definiert qualitativ selektive Vertriebssysteme in Art. 1 Abs. 1 lit. e als Systeme, in denen:
„der Anbieter sich verpflichtet oder von seinen Abnehmern verlangt, nur Händler als Vertragshändler auszuwählen, die bestimmte Kriterien erfüllen, die Art der Kriterien jedoch nicht auf die Zahl der Händler beschränkt ist.“
Das bedeutet, dass die Auswahl der Händler auf qualitativen Kriterien beruhen muss, die objektiv, einheitlich und diskriminierungsfrei angewendet werden.
3. Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO
Grundsätzlich werden vertikale Vereinbarungen durch Art. 101 Abs. 1 AEUV verboten, es sei denn, sie erfüllen die Bedingungen der Vertikal-GVO.
- Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO stellt vertikale Vereinbarungen, einschließlich qualitativ selektiver Vertriebssysteme, von diesem Verbot frei, sofern sie die dort genannten Kriterien erfüllen.
Wichtige Voraussetzung:
Ein qualitativ selektives Vertriebssystem kann nach der Vertikal-GVO freigestellt werden, sofern der Marktanteil des Herstellers und des Händlers jeweils 30 % nicht überschreitet (Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO). Wird diese Schwelle überschritten, erfolgt eine Einzelfallprüfung.
4. Unzulässige Wettbewerbsbeschränkungen in selektiven Vertriebssystemen (Art. 4 Vertikal-GVO)
Nicht alle Beschränkungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems sind zulässig. Art. 4 Vertikal-GVO nennt einige „kernbeschränkende“ Maßnahmen, die auch in einem selektiven Vertriebssystem nicht erlaubt sind, darunter:
Verbotene Beschränkungen:
- Absolutes Verbot des Online-Handels
- Händler müssen in einem selektiven Vertriebssystem grundsätzlich die Möglichkeit haben, Produkte online zu vertreiben.
- Ein generelles Online-Verkaufsverbot ist kartellrechtswidrig (vgl. EuGH „Pierre Fabre Dermo-Cosmétique“ Rs. C-439/09).
- Verbot der passiven Verkäufe
- Hersteller dürfen ihren autorisierten Händlern nicht verbieten, Bestellungen von Kunden außerhalb ihres Vertragsgebiets oder -landes anzunehmen („passiver Verkauf“).
- Der Händler muss Anfragen von Kunden aus anderen Gebieten bearbeiten dürfen.
- Mindestpreisbindungen
- Festgelegte oder Mindestpreise für Wiederverkäufer sind unzulässig (Art. 4 lit. a Vertikal-GVO).
- Unverbindliche Preisempfehlungen (UVP) sind jedoch zulässig, solange sie nicht als Mindestpreis de facto durchgesetzt werden.
- Verbot von Drittplattformen ohne sachlichen Grund
- Eine pauschale Untersagung des Verkaufs über Drittplattformen (z. B. Amazon, eBay) ist nur dann zulässig, wenn dies objektiv begründet wird, etwa zum Schutz des Markenimages (vgl. EuGH „Coty Germany“, Rs. C-230/16).
5. Zulässige Einschränkungen in selektiven Vertriebssystemen nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO
Die Vertikal-GVO erlaubt Herstellern einige Beschränkungen, sofern sie das Ziel verfolgen, die Markenqualität zu schützen und diskriminierungsfrei angewendet werden.
Erlaubte Einschränkungen:
- Anforderungen an das Geschäftslokal oder die Online-Plattform
- Hersteller dürfen vorschreiben, dass ein Händler über ein hochwertiges Verkaufsgeschäft oder eine professionelle Online-Präsenz verfügt.
- Beispiel: Louis Vuitton kann verlangen, dass seine Produkte nur in hochwertig eingerichteten Boutiquen verkauft werden.
- Schulungs- und Serviceanforderungen
- Händler können verpflichtet werden, eine qualifizierte Beratung und Kundenbetreuung anzubieten.
- Beispiel: Hersteller von High-End-Audioanlagen (z. B. Bang & Olufsen) verlangen, dass Händler eine spezielle Produktschulung absolvieren.
- Verbot des Verkaufs über bestimmte Drittplattformen
- Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Verkauf über Marktplätze wie eBay oder Amazon untersagt werden (vgl. EuGH „Coty Germany“).
- Zulässig ist ein Verbot, wenn:
- Die Marke durch die Drittplattform beschädigt werden könnte.
- Die Marke nicht ausreichend kontrollieren kann, wie sie dort präsentiert wird.
6. Wichtige Rechtsprechung zur Zulässigkeit selektiver Vertriebssysteme
Die Zulässigkeit qualitativ selektiver Vertriebssysteme wurde durch mehrere bedeutende Urteile geprägt.
EuGH „Metro I“ (Rs. 26/76, 1977) – Grundsatzentscheidung
- Der EuGH entschied, dass selektive Vertriebssysteme zulässig sind, wenn sie auf objektiven Kriterien beruhen und das Produkt dies erfordert.
- Zitat aus dem Urteil:
„Selektive Vertriebssysteme sind nicht grundsätzlich wettbewerbswidrig, wenn sie die Qualität und den richtigen Gebrauch des Produkts sicherstellen.“
EuGH „Pierre Fabre Dermo-Cosmétique“ (Rs. C-439/09, 2011) – Verbot des Online-Handels
- Das Gericht entschied, dass ein generelles Online-Verkaufsverbot nicht mit Art. 101 AEUV vereinbar ist, es sei denn, es gibt objektive Rechtfertigungsgründe.
- Zitat:
„Ein generelles Verbot des Internetvertriebs stellt eine Kernbeschränkung dar, wenn es den Zugang der Händler zum Markt unangemessen beschränkt.“
EuGH „Coty Germany“ (Rs. C-230/16, 2017) – Drittplattformverbote
- Bestätigte, dass Drittplattformverbote zulässig sein können, wenn sie dem Schutz des Luxusimages dienen.
- Zitat:
„Ein Verbot des Verkaufs über Drittplattformen kann im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems gerechtfertigt sein, wenn es dazu dient, das Luxusimage des Produkts zu wahren.“
7. Fazit: Zulässigkeit qualitativ selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO
Ein qualitativ selektives Vertriebssystem ist zulässig, wenn:
- Objektive, sachliche Kriterien für die Händlerauswahl bestehen.
- Keine wettbewerbswidrigen Beschränkungen (z. B. Online-Verbote, Mindestpreise) auferlegt werden.
- Die Vorgaben verhältnismäßig sind und diskriminierungsfrei angewendet werden.
Problematisch sind insbesondere:
- Generelle Verbote des Online-Handels oder des Verkaufs über Drittplattformen.
- Preisvorgaben oder Beschränkungen des passiven Vertriebs.
Praxistipp: Hersteller sollten ihre selektiven Vertriebssysteme regelmäßig kartellrechtlich prüfen lassen, um Verstöße gegen die Vertikal-GVO zu vermeiden.
Was versteht man unter Einzelfreistellungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV
1. Einführung: Bedeutung der Einzelfreistellung
Der Art. 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb beschränken. Dazu gehören auch selektive Vertriebssysteme, wenn sie den freien Wettbewerb einschränken, indem sie bestimmten Händlern den Zugang zum Vertrieb eines Produkts verwehren.
Allerdings gibt es eine Möglichkeit, von diesem generellen Verbot abzuweichen: die Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Dieser Artikel erlaubt bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, wenn sie wirtschaftliche Vorteile bringen, die die Wettbewerbsbeschränkung aufwiegen.
2. Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV
Damit eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung, wie ein selektives Vertriebssystem, nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt werden kann, müssen vier kumulative Voraussetzungen erfüllt sein:
- Effizienzsteigerungen („Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung“)
- Die Vereinbarung muss zu wirtschaftlichen oder technologischen Vorteilen führen.
- Beispiele:
- Verbesserung der Produktqualität oder Serviceleistungen
- Schutz des Markenimages, der zur Absatzförderung beiträgt
- Förderung von Innovation durch standardisierte Verkaufsbedingungen
- Angemessene Beteiligung der Verbraucher an den Vorteilen
- Die Kunden müssen von der Vereinbarung profitieren – sei es durch bessere Produkte, günstigere Preise oder besseren Service.
- Beispiel: Ein selektives Vertriebssystem für Medizinprodukte kann dadurch gerechtfertigt werden, dass es sicherstellt, dass Kunden eine qualifizierte Beratung und fachgerechten Support erhalten.
- Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung („Erforderlichkeit der Beschränkung“)
- Die Wettbewerbseinschränkung darf nicht über das erforderliche Maß hinausgehen.
- Beispiel:
- Ein Hersteller darf den Vertrieb über unqualifizierte Händler verbieten, um eine hochwertige Produktpräsentation sicherzustellen.
- Ein generelles Online-Verbot wäre jedoch unverhältnismäßig.
- Kein Ausschluss des Wettbewerbs („Kein Ausschluss wesentlicher Wettbewerbselemente“)
- Die Vereinbarung darf nicht dazu führen, dass der Wettbewerb weitgehend ausgeschaltet wird.
- Beispiel:
- Eine selektive Vertriebsstrategie für Luxusuhren ist zulässig, wenn weiterhin genügend Händler am Markt teilnehmen können.
- Problematisch wäre es, wenn nur eine sehr geringe Zahl von Händlern zugelassen wird, sodass der Markt de facto abgeschottet wird.
Sind diese vier Kriterien erfüllt, kann ein selektives Vertriebssystem individuell freigestellt werden, auch wenn es gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt.
3. Beispiele für Einzelfreistellungen aus der Rechtsprechung
Die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben in mehreren Fällen entschieden, ob selektive Vertriebssysteme von Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen werden können. Hier einige bedeutende Urteile:
EuGH „Metro I“ (Rs. 26/76, 1977) – Grundsatzentscheidung zur Einzelfreistellung
- Der EuGH entschied, dass selektive Vertriebssysteme zulässig sind, wenn sie auf objektiven Kriterien basieren und zur Sicherung der Produktqualität beitragen.
- Zitat aus dem Urteil:
„Selektive Vertriebssysteme sind nicht grundsätzlich wettbewerbswidrig, wenn sie die Qualität und den richtigen Gebrauch des Produkts sicherstellen.“
EuGH „Pierre Fabre Dermo-Cosmétique“ (Rs. C-439/09, 2011) – Online-Verkaufsverbot nicht erforderlich
- Der EuGH lehnte die Einzelfreistellung für ein generelles Verbot des Online-Vertriebs durch einen Kosmetikhersteller ab.
- Begründung: Das Online-Verkaufsverbot war nicht erforderlich, um die Produktqualität sicherzustellen.
- Zitat:
„Ein generelles Verbot des Internetvertriebs stellt eine Kernbeschränkung dar, wenn es den Zugang der Händler zum Markt unangemessen beschränkt.“
EuGH „Coty Germany“ (Rs. C-230/16, 2017) – Drittplattformverbot zulässig
- In diesem Fall entschied der EuGH, dass ein Verbot des Verkaufs über Drittplattformen wie Amazon oder eBay zulässig sein kann, wenn es dazu dient, das Luxusimage der Marke zu wahren.
- Zitat:
„Ein Verbot des Verkaufs über Drittplattformen kann im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems gerechtfertigt sein, wenn es dazu dient, das Luxusimage des Produkts zu wahren.“
Diese Urteile zeigen, dass eine Einzelfreistellung möglich ist, wenn das Vertriebssystem objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig ist.
4. Unterschied zur Vertikal-GVO
- Vertikal-GVO (VO (EU) 2022/720):
- Enthält allgemeine Freistellungen für vertikale Vereinbarungen, sofern bestimmte Marktanteilsschwellen (30 %) nicht überschritten werden.
- Erlaubt selektive Vertriebssysteme, wenn sie objektiv, verhältnismäßig und diskriminierungsfrei sind.
- Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV:
- Wird erforderlich, wenn eine Vereinbarung nicht unter die Vertikal-GVO fällt, etwa weil die Marktanteile zu hoch sind.
- Erfordert eine detaillierte Einzelfallprüfung durch die Wettbewerbsbehörden oder Gerichte.
5. Fazit: Wann ist eine Einzelfreistellung erforderlich?
Eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV ist notwendig, wenn:
- Die Marktanteile von Hersteller oder Händler 30 % übersteigen (kein Schutz durch die Vertikal-GVO).
- Die Vereinbarung nicht pauschal unter die Vertikal-GVO fällt, aber wirtschaftlich gerechtfertigt sein könnte.
- Es um ein selektives Vertriebssystem geht, das besondere Einschränkungen enthält, z. B. Drittplattformverbote oder Exklusivrechte.
Keine Einzelfreistellung ist möglich, wenn:
- Die Beschränkungen über das erforderliche Maß hinausgehen (z. B. komplettes Online-Verbot).
- Der Wettbewerb weitgehend ausgeschaltet wird (z. B. sehr wenige Händler erhalten Vertriebsrechte).
Hersteller sollten daher sorgfältig prüfen, ob ihr selektives Vertriebssystem die Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung erfüllt – oder ob sie sich auf die Vertikal-GVO berufen können. Im Zweifelsfall empfiehlt sich eine kartellrechtliche Beratung, um Bußgelder oder Wettbewerbsverfahren zu vermeiden.
Ansprechpartner
Frank Weiß
Frank Weiß
Andere über uns
WEB CHECK SCHUTZ
Gestalten Sie Ihre Internetseite / Ihren Onlineshop rechts- und abmahnsicher.
Erfahren Sie mehr über die Schutzpakete der Anwaltskanzlei Weiß & Partner für die rechtssichere Gestaltung Ihrer Internetpräsenzen.